Montag, 20.01.2020: Höflichkeit

Da sitze ich in einem Restaurant und nehme die Speisekarte zur Hand. Die Preise sind stattlich, das Ambiente gemütlich. Plötzlich baut sich eine Kellnerin vor mir auf und sagt laut: "Hast Du schon gewählt?" Ich erschrecke. Mit 57 Jahren kann ich mich noch nicht daran gewöhnen einfach geduzt zu werden. Insgeheim ist mein Gedanke "Ich kenne diese Frau doch gar nicht" und "Ich will hier nur essen." Irgendwie steckt das in mir drin. Darf mich jemand mit "Du" ansprechen, dann bedeutet das eine gewisse Nähe und Vertrautheit. Ist dieses Vertrauen nicht gegeben, dann gefällt mir das "Sie" besser. Das gebietet die so genannte Höflichkeit.

Aber was ist das eigentlich? Höflichkeit. Entstanden sind höfliche Umgangsformen einst bei Hofe, also vor Zeiten bei den Adligen. Die achteten auf die Etikette. Es entstanden Regeln des höflichen Umgangs. Ein Etikett war nichts anderes als ein Zettel mit Benimmregeln für das Hofzeremoniell. Vieles ist davon aus unserem Alltag verschwunden. "Bitte" und "Danke", das gibt es zum Glück noch. Und eben auch das "Sie" und das "Du". Als ich Kind war, mussten Mädchen noch einen Knicks machen und Jungen einen Diener, wenn sie einem Erwachsenen begegneten. Gut, dass es manches nicht mehr gibt. Ich glaube, Formen verschwinden, wenn sie keinen Inhalt haben. Es nutzt eben nichts, wenn jemand zu mir "Sie" sagt, aber vollkommen respektlos mit mir umgeht. Vieles an Umgangsformen ist verloren gegangen, weil sie zu Floskeln verkommen waren. Zu oft war die Etikette nur ein Etikett, aber es war nicht drin, was draufstand.

Ich bin niemand, der auf Regeln besonders viel Wert legt, aber ich lebe davon, dass Gott mit mir respektvoll umgeht. Gott ist höflich. Er achtet mich. Lässt mich ausreden. Und er hört viel zu. Und er macht keine Floskeln. Ich weiß gar nicht, ob er Sie oder Du zu mir sagt, aber ich weiß, er nimmt mich ernst. Gottes Umgang mit mir prägt irgendwie auch meinen Umgang mit Menschen. Zugegeben. Es fällt nicht immer leicht. Ich bin nicht Gott. Aber es ist unverzichtbar, wenn Menschen miteinander leben wollen.

Das Wort zum Tag spricht in dieser Woche:

MDR SACHSEN - Das Sachsenradio Stephan Ringeis

Stephan Ringeis

Senderbeauftragter der Evangelischen Freikirchen beim MDR

geb. 18.09.1962 in Jena | aufgewachsen in Berlin | Studium der Theologie am Theologischen Seminar der Evangelisch-methodistischen Kirche in Bad Klosterlausnitz von 1982 bis 1987 | Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche in Neudorf/Erzgebirge 1987 bis 1990 | Pastor in Wilkau-Haßlau 1990 bis 1997 | Pastor in Zwickau von 1997 bis 2009 | Superintendent des Distrikts Zwickau der Evangelisch-methodistischen Kirche 2009 bis 2019 | Pastor im Interimsdienst (Geistliche Begleitung von Gemeinden in Übergangssituationen) | verheiratet | drei Kinder

Verantwortlich für Verkündigungssendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie das Wort zum Tag...

... sind die Senderbeauftragten der evangelischen Landeskirchen, der evangelischen Freikirchen bzw. der römisch-katholischen Kirche.