Technikgeschichte Tatra-Straßenbahnen in der DDR

16. Februar 2022, 19:05 Uhr

In fast allen sozialistischen Ländern kamen die mittlerweile legendären Tatra-Straßenbahnen aus der ČSSR zum Einsatz. Auch in der DDR. In Leipzig verkehrte am 14. Februar 1969 erstmals eine Tatra-Straßenbahn im Liniendienst, am 25. Februar feierten die Tatra-Bahnen in Chemnitz ihren Einstand und am 20. April in Magdeburg. Sie waren aus dem Stadtbild in Ostdeutschland gar nicht mehr wegzudenken. Und fahren mancherorts bis heute.

Thomas Kleine war Straßenbahnfahrer in Leipzig. Auch im Herbst 1989 steuerte er seine Tatra-Straßenbahn durch die Messestadt. Am 2. Oktober erhielt er vom Fahrdienstleiter einen Tipp für den Fall, dass er in eine Demo hineingerät. "Da muss man doch nicht stehenbleiben. Da klingelt man und fährt weiter. Die Leute springen schon beiseite. Und wenn mal doch einer nicht springt, dann hat er Pech gehabt, er braucht ja nicht zu demonstrieren." Doch Thomas Kleine stoppte und machte die Türen auf, damit die Fahrgäste aussteigen konnten. Haltestelle Montagsdemo, gewissermaßen. Thomas Kleine blieb mit seiner Straßenbahn inmitten der Demonstranten stehen, so dass sich auf dem Ring schnell die Straßenbahnen stauten.

Tatra-Straßenbahnen gehörten zum Stadtbild

Die Tatra-Straßenbahnen gehörten damals zum Stadtbild in den Großstädten der DDR und spielten eine entscheidende Rolle im öffentlichen Personennahverkehr. 1968 wurden die ersten Fahrzeuge aus der ČSSR in die DDR geliefert – nach Dresden, Halle, Magdeburg, Leipzig und Karl-Marx-Stadt. Es waren sowohl Tatras vom Typ T3 als auch vom beinahe baugleichen Typ T4D, die lediglich 30 Zentimeter schmaler waren. Diese schmaleren Bahnen hatten die meisten DDR-Verkehrsbetriebe geordert, weil ihnen die regulären T3 schlicht zu breit waren. Anschließend wurden die Tatra-Straßenbahnen wochenlang erprobt und für den Einsatz in den jeweiligen Städten vorbereitet. Im Lauf der Jahre kamen in 14 Städten der DDR Straßenbahnen aus dem sozialistischen Bruderland zum Einsatz.

Tatra-Bahnen: im Volksmund "Dubčeks Rache"

Bei aller Freude über die neuen leistungsstarken Bahnen aus der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag – die Tatras waren sogenannte Hochflurwagen. Die Fahrgäste mussten in ihre neue Straßenbahn drei Stufen hinaufsteigen, insgesamt immerhin 90 Zentimeter. Für ältere Fahrgäste konnte das durchaus beschwerlich sein. Als Sitze dienten schmale Plastikschalen.

Die "Tatras" galten zudem als störanfällig. Ständig kamen Monteure aus Prag zu Reparaturarbeiten angereist. "Dubčeks Rache" sollen die Leipziger die neuen Straßenbahnen damals getauft haben. Dennoch: Insgesamt orderten die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) zwischen 1969 und 1986 insgesamt 598 Triebwagen und 273 Anhänger. In Leipzig verkehrten damit so viele Tatra-Straßenbahnen wie in keiner anderen Stadt der DDR.

Einen anderen Rekord hatte Magdeburg inne: Schon 1978 besaßen die Magdeburger Verkehrsbetriebe einen lupenreinen Tatra-Wagenpark, während in vielen anderen Städten noch ältere Wagen anderer Hersteller im Einsatz waren. Allerdings gab es zu den Tatra-Straßenbahnen in den Siebziger und Achtziger Jahren auch keine Alternative.

Straßenbahnen aus Prag für die sozialistischen Staaten

Im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), dem Wirtschaftsbündnis der sozialistischen Staaten, galt nämlich das Prinzip der Arbeitsteilung und Spezialisierung, um Parallelproduktionen zu verhindern. Ungarn etwa lieferte seine Ikarus-Busse in sämtliche RGW-Staaten, die UdSSR war für die Produktion großer Diesellokomotiven, Flugzeuge und Traktoren verantwortlich, die DDR fertigte Fischverarbeitungsschiffe, Werkzeugmaschinen und Computer, Rumänien Diesellokomotiven. Und die ČSSR ihrerseits war für die Produktion von Straßenbahnen verantwortlich. Den anderen RGW-Staaten war die Produktion von Straßenbahnen mehr oder weniger untersagt. Und so ruckelten die Tatra-Bahnen ab Mitte der 1960er-Jahre durch die Städte der Sowjetunion, Rumäniens, Jugoslawiens, Ungarns, der ČSSR und der DDR.

Meistproduzierte Straßenbahn der Welt

Die Tatra-Straßenbahn vom Typ T3 gilt mittlerweile als die meistproduzierte weltweit. Die T3 wurden im Auftrag des RGW ab 1960 von zwei Prager Fabriken entwickelt und hergestellt: von Tatra Smíchow und ČKD Praha. Insgesamt stellten die Firmen von 1962 bis 1997 insgesamt 14.000 Stück her und exportierten sie in die Länder des Ostens. Tatra-Straßenbahnen, teils modifiziert und weiterentwickelt, verkehrten und verkehren in Zagreb ebenso wie in Riga, Moskau, Sarajevo, Brno oder Budapest. Und natürlich fahren sie noch immer durch die Straßen Prags. Die T3 hat in vielen Ländern längst Kultstatus erreicht.

Auslaufmodell Tatra-Bahn

Die Straßenbahnen aus Prag drehten auch nach dem Ende der DDR ihre Runden durch die ostdeutschen Städte. Nach der politischen Wende wurden sie freilich teils aufwendig modernisiert, teils aber auch verschrottet oder verkauft. Viele Leipziger Tatras gingen etwa in die koreanische Hauptstadt Pjöngjang, nach Bulgarien und Rumänien. Im Laufe des Jahres 2022 sollen sie nach Angaben der Leipziger Verkehrsbetriebe komplett aus dem regulären Betrieb verschwinden – nur noch einige Tatra-Bahnen werden danach als Reserve und Vverstärkung für Stoßzeiten und besondere Ereignisse mit viel Besucherverkehr vorgehalten.

In Magdeburg endete die Äre der guten alten Tatra-Bahnen im Januar 2013 – offiziell, denn einige Tatra-Wagen wurden auch nach diesem Datum als Reserve vorgehalten. Im Sommer 2020 entschloss man sich sogar, acht ausrangierte Tatra-Wagen aus Berlin zusätzlich zu kaufen und wieder einzusetzen – auf diese Weise sollen Engpässe im Fuhrpark überwunden werden. Totgesagte leben eben länger!

Quellen

  • Rolf-Roland Scholze, Die Leipziger Straßenbahnen in den 60er und 70er-Jahren, Sutton Verlag 2010
  • Das Wunder von Leipzig, MDR 2009
  • 50 Jahre Tatra-Straßenbahn, www.industriekultur-leipzig.de
  • www.strassenbahnen-online.de/tatra/t4
  • Nedad Memic, Die populärste Tram der Welt, 22.11.2016, derstandard.at

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke wo du lebst: Tatra, Funken, scharfe Kurven - Halles Straßenbahngeschichte | 11. Mai 2021 | 21:00 Uhr