Hände 45 min
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Ohne Berührung kann sich ein Neugeborenes nicht gesund entwickeln. Wer lange Zeit an Berührungsmangel leidet, psychisch oder physisch isoliert ist, wird krank. Auch Schimpansen pflegen Freundschaften.

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Neurologie Der Streichel-Sinn: Es gibt ihn wirklich!

21. Januar 2020, 14:03 Uhr

Mit unserem Tastsinn können wir uns orientieren. Wir können die Oberfläche und die Form eines Gegenstandes erfühlen, können mit etwas Glück so den Autoschlüssel ganz unten im dunklen Rucksack finden. Unser Streichelsinn hingegen hilft uns, uns der Nähe und Geborgenheit zu vergewissern. Dass es dafür spezielle Nervenfasern gibt, fanden Forscher der Universität Göteborg heraus.

Warum kann jemand, dessen Nervenfasern für den Tastsinn defekt sind, trotzdem ein Streicheln empfinden? Das fragten sich Prof. Hakan Olausson und sein Team an der Universität Göteborg. Ihnen war eine Patientin begegnet, bei der genau das der Fall war. Bei genaueren Untersuchungen stießen die Wissenschaftler auf ein Netzwerk aus bis dahin unbekannten Sensoren, den sogenannten C-taktilen oder CT-Nerven. Im Vergleich zu anderen Nerven leiten CT-Nerven Signale eher langsam. Die Forscher konnten damals nachweisen, dass diese bei der Patientin noch intakt waren. Aber das sie wirklich aufs Streicheln spezialisiert sind, mussten sie erst durch eine Studie beweisen.

Nur Streicheln aktiviert C-taktile Fasern

Bei gesunden freiwilligen Testpersonen maßen Olausson und seine Kollegen, wie stark die damals neu entdeckten CT-Nerven auf Streicheln reagierten. Dazu brachten sie feinste Elektroden in die Unterarmhaut der Probanden ein und ließen anschließend einen Roboter mit einem weichen Ziegenhaarpinsel in einer genau definierten Geschwindigkeit und mit einem ganz bestimmten Druck über die Haut der Testteilnehmer streichen.

Zusätzlich sollte eine andere Gruppe von Probanden angeben, welche Geschwindigkeit-Druck-Kombination ihnen am angenehmsten war. Wie vermutet waren die CT-Fasern in genau dem Geschwindigkeitsbereich am aktivsten, der auch als am angenehmsten beurteilt wurde. Das galt allerdings nur für Hautbereiche, die auch von CT-Nerven durchzogen waren: Überall dort, wo Haare wachsen, und seien sie auch noch so winzig. In der Handinnenfläche oder in den Fingerspitzen gibt es sie zum Beispiel nicht.

Neuronale "Gütekontrolle": Temperatur + Geschwindigkeit = Qualität der Berührung

Eine Frau wird gestreichelt.
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In der Realität arbeiten die Nerven für den Tastsinn und die für den Streichelsinn zusammen. Auch das haben die Neurophysiologen aus Göteborg erforscht. Der Tastsinn erfasst, ob die Berührung z.B. mit einem harten oder einem weichen Gegenstand erfolgt. Die CT-Fasern signalisieren dem Gehirn, ob sie als angenehm oder unangenehm einzustufen ist. Dabei wird nach Streichelgeschwindigkeit und Temperatur beurteilt. Eine Berührung mit etwa 1 bis 10 cm pro Sekunde wird als angenehmes Streicheln empfunden. Die optimale "Wohlfühltemperatur" liegt bei ca. 32 Grad Celsius, der Oberflächentemperatur unserer Haut.

Neurophysiologisch bewiesen: Streicheln macht glücklich!

Dass CT-Fasern die Reize langsamer weiterleiten als die Nerven für den Tastsinn, ist inzwischen bewiesen. Am Universitätsklinikum Carl-Gustav-Carus in Dresden wird der Streichelsinn weiter untersucht, zum Beispiel wo genau im Gehirn das Streichelsignal ankommt. Leiterin der Forschungsabteilung "Affective Touch" (Positive zwischenmenschliche Berührung) ist Juniorprofessorin Dr. Ilona Croy. Sie erklärt, wie ein Magnetressonanz-Scanner (MRT) dabei hilft:

Wir messen die Sauerstoffanreicherung des Blutes im Gehirn. Immer dann, wenn wir eine Aktivierung haben, brauchen wir besonders viel Sauerstoff. Die Areale, die gerade beschäftigt sind, haben eine besonders hohe Sauerstoff-Sättigung und das ist dann eben zu sehen.

Dr. Ilona Croy

Das Bild, das der MRT-Scanner erzeugt, zeigt, dass die CT-Fasern eine Direktverbindung ins Belohnungszentrum unseres Gehirns haben. Kommt der Streichelreiz dort an, wird das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet.

Welchen Sinn hat der Streichel-Sinn?

Dass unser Streichelsinn zur Orientierung und zum Ertasten von Gegenständen nicht taugt, haben die Forscher bewiesen. Sie haben aber eine Vermutung, welchen Zweck er möglicherweise erfüllt: Er soll uns vermitteln, dass wir in Sicherheit und Geborgenheit sind, dass wir keine Angst haben müssen:

Man kann sich das vorstellen wie in einer Kaninchenhöhle, wo sich diese vielen kleinen Kaninchen, die übrigens auch C-Fasern haben, alle aneinander kuscheln. Damit wissen sie: es ist jemand anderes neben mir, der ist auch warm, das fühlt sich gut an. Der Herzschlag geht runter. Wird ein Kaninchen isoliert, werden die C-Fasern nicht mehr aktiviert und das Kaninchen bekommt Panik.

Dr. Ilona Croy

Das optimale Streicheltempo steckt in uns

Obwohl wir die optimale Streichelgeschwindigkeit, die die Forscher mit 1 bis 10 cm pro Sekunde angeben, meist gar nicht kennen, streicheln wir intuitiv genau so langsam. Und wir empfinden das Streicheln in dieser Geschwindigkeit auch am angenehmsten. Selbst Babys zeigen dabei das deutlichste Wohlbefinden. Haben wir von klein auf erlernt, dass diese Art der Berührung etwas Gutes ist, dass es ein Signal von Liebe und Sicherheit ist? Oder ist es uns angeboren? Keine der beiden Thesen konnten Wissenschaftler bislang belegen.

Angeboren: Die Softness-Illusion

Einen Hinweis darauf, dass wir den optimalen Streichelmodus bereits in uns tragen, wenn wir zu Welt kommen, konnten sie doch mit einem Experiment nachweisen: die sogenannte Softness-Illusion. Damit ist das Gefühl gemeint, die Haut eines anderen sei weicher und zarter als die eigene. Testpersonen sollten den Arm eines anderen Probanden unter zwei verschiedenen Bedingungen streicheln: einmal in einem selbstbestimmten Tempo, der optimalen Streichelgeschwindigkeit. Ein anderes Mal wurde die Hand dabei vom Versuchsleiter geführt, viel schneller. Die Beteiligten sagten aus, die Haut des anderen nur dann als weicher und zarter empfunden zu haben, wenn sie selbst das Tempo angaben. Allerdings waren an dieser Studie nur Frauen beteiligt. Ob der Test mit Männern ein ähnliches Ergebnis gebracht hätte, bleibt daher offen.

Streicheln: Entwicklungsmotor und Medizin

Ganz gleich, ob angeboren oder erlernt - ohne das Streicheln können sich neugeborene Babys nicht gut entwickeln. Für Frühgeborene ist dieser Kontakt sogar lebensnotwendig. Denn setzt die Atmung ihrer noch nicht ausgereiften Lunge aus, gibt ihnen eine liebevolle Berührung den Impuls, wieder Luft zu holen. Auch wenn wir traurig sind, uns in einer Krise befinden oder krank sind, hilft es uns, gestreichelt zu werden. Glückshormone werden ausgeschüttet, das Immunsystem angekurbelt, und uns unterbewusst signalisiert: Du bist in Sicherheit. Ein "Naturheilverfahren" also, das durch nichts zu ersetzen ist.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Doku: Sind wir alle unterkuschelt? | 23. Juni 2019 | 22:45 Uhr