Ein junger Mann hält ein Tablet in der Hand.
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Leseforschung Speed Reading: Schneller lesen, mehr verstehen und damit Zeit sparen

04. Mai 2023, 13:03 Uhr

Mails, Onlineartikel, Bücher – täglich werden wir von Texten überflutet. Und all das zu lesen, kostet Zeit! Wie praktisch wäre es da, könnten wir ganz einfach möglichst viel Text in kürzester Zeit lesen und dabei trotzdem alles verstehen. Dank der Lesetechnik Speed Reading soll das funktionieren. Doch was ist dran? Podcast-Host Maike zum Hoff absolviert ein Lesetraining, sie bekommt Tipps für effizienteres Lesen und erfährt, warum wir eigentlich alle zweimal im Leben das Lesen lernen müssten.

Meine Challenge

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"Schnelllesen wird sehr oft mit Weglassen verbunden. Das ist aber absolut nicht nötig", sagt Peter Stonn, Geschäftsführer des Lesetraining-Anbieters "Improved Reading". "Im Gegenteil, du sollst den Text vollständig fokussieren, aber es gibt Möglichkeiten, dass auf einem doppelten, vielleicht sogar noch höheren Temponiveau zu machen. Und das Witzige ist, dadurch verstehst du sogar noch besser."

Schneller lesen und dabei sogar mehr vom Inhalt verstehen? Für MDR WISSEN-Reporterin Maike zum Hoff vom Podcast "Meine Challenge" klingt das nach einer steilen These. Deshalb macht sie den Selbstversuch und absolviert ein mehrtägiges Lesetraining.

Das kleine Einmaleins des Speed Readings

Die Aufgabe des Online-Kurses bringt Lesetrainer Peter Stonn auf eine plakative Formel: "Guck anders, guck vorwärts und quatsch nicht mit!" Das kleine Einmaleins des Speed Readings sozusagen.

Natürlich geht es jetzt beim Speed Reading nicht darum, den neuesten Fantasy-Roman oder den Lieblings-Lyrik-Band in kürzester Zeit durchzuscannen – diese Texte sollen auch weiterhin genussvoll und in aller Ruhe gelesen werden. Doch in der Schule, im Studium oder Beruf sind viele von uns tagtäglich mit dem Lesen einer Vielzahl an Artikeln, Papern und Fachtexten beschäftigt. Und hier Zeit zu sparen, ist sicherlich nicht die schlechteste Idee, oder?

Die richtigen Techniken sind entscheidend

Unsere normale Lesegeschwindigkeit liegt durchschnittlich bei etwa 200 Wörtern pro Minute, abhängig von der Komplexität des Textes. Zu Beginn des Trainings wird zunächst ein Lesetest gemacht, um das persönliche Lesetempo und Textverständnis zu ermitteln.

Es ist nicht der Druck, nicht der Stress. Du musst nichts anders oder schneller und hektischer machen. Du brauchst nur die richtige Technik, fertig!

Peter Stonn, Geschäftsführer von Improved Reading

Anschließend wird mit verschiedenen Strategien versucht, das Lesen effizienter zu gestalten.

Sinneinheiten bilden: Statt Wort für Wort einzeln zu lesen, sollten möglichst mehrere, zusammenhängende Wörter parallel erfasst werden – zum Beispiel "durch den Wald gehen".

Regressionen vermeiden: Viel zu oft springen wir ein paar Wörter oder ganze Zeilen zurück, um etwas nochmal zu lesen. Doch viele dieser Rücksprünge sind nicht gar nötig – Verständnislücken und der Gesamtkontext erschließen sich oftmals über den Text hinweg.

Subvokalisieren abtrainieren: Beim Sprechen haben wir ein Tempolimit, beim Denken eher nicht. Durch das innere Mitsprechen beim Lesen bremsen wir uns also selbst aus, da das Sprechtempo viel niedriger ist, als die eigentliche Texterfassung benötigt.

Tempo schrittweise erhöhen: Beim Speed Reading geht es um Geschwindigkeit, klar. Aber nicht nur! Wir sollen ja auch verstehen, was wir gelesen haben. Deshalb nicht sofort durch den Text rasen, sondern das Lesetempo jeden Tag ein Stück erhöhen – so können wir uns langsam steigern und das Verständnis trotzdem beibehalten.

Wir müssten eigentlich alle zweimal das Lesen lernen

Peter Stonn, Geschäftsführer des Lesetraining-Anbieters 'Improved Reading' im Portrait.
Wer schneller liest, spart nicht nur Zeit, sondern versteht auch mehr vom Text, meint Lesetrainer Peter Stonn. Bildrechte: MDR/Peter Stonn

"Oft erwarten wir, dass ich beim erstmaligen Lesen schon 100 Prozent verstanden haben muss. Und um das zu erreichen, versuche ich es langsam", so Lesetrainer Stonn. "Wir wissen aber, dass die, die besonders langsam sind, eher die mit dem schlechteren Textverständnis sind. Das heißt, es ist absolut kontraproduktiv, bewusst langsam zu sein, um besser zu sein. Es entspricht nur unseren alten Gewohnheiten."

Mit 'alten Gewohnheiten' meint Stonn, dass die meisten von uns nur einmal das Lesen lernen – in der Grundschule. Laut gesprochen, langsam, Wort für Wort für Wort. Doch das kostet wahnsinnig viel Zeit und entspricht nicht den Anforderungen unseres Alltags im Erwachsenenalter. "Das heißt, zum Lesen lernen waren diese Gewohnheiten auch gut. Nur jetzt behindern sie dich, erwachsengerecht zu lesen." Kurzum: Eigentlich müssten wir alle zweimal das Lesen lernen!

Effekte des Schnelllesens – die Wissenschaft ist gespalten

In zahlreichen Büchern, Apps und Trainingskursen werden Übungen angeboten, mit deren Hilfe man die Lesegeschwindigkeit erhöhen können soll, ohne dabei das Textverständnis zu beeinträchtigen. Doch können die Versprechungen des Speed Readings tatsächlich eingelöst werden? Hier ist sich die Wissenschaft noch uneins.

Innerhalb der etablierten Leseforschung an den Universitäten gibt es ein verbreitetes Urteil, dass das nicht funktionieren kann. Und die Frage ist, woher kommt das?

Ralph Radach, Professor für Psychologie und Leseforscher an der Bergischen Universität Wuppertal

Eine Übersichtsarbeit um Keith Rayner und seines Forschungsteams von der University of California in San Diego, USA kommt zu dem Schluss, dass Schnelllesen in den meisten Fällen zu Lasten des Textverständnisses geht.

Hauptgrund dafür ist wohl der sogenannte 'Speed-Accuracy-Trade-Off', eine Grundregel der Psychologie. Und die besagt, dass jede geistige Tätigkeit, die schneller ausgeführt wird, gleichzeitig auch mit mehr Fehlern verbunden ist. Heißt also in diesem Fall: Wer schneller liest, versteht auch immer weniger. Diese Annahme ist in der Leseforschung sehr weit verbreitet.

Eine Verdopplung der Lesegeschwindigkeit ist möglich

Dem gegenüber stehen die Erkenntnisse um Leseforscher Ralph Radach, Professor für Allgemeine und Biologische Psychologie an der Bergischen Universität Wuppertal und Pionier im Bereich der Schnellleseforschung in Deutschland.

Wir finden, dass man mit moderatem Aufwand die Lesegeschwindigkeit ungefähr verdoppeln kann, wenn man ein sinnvolles Training durchführt.

Ralph Radach, Professor für Psychologie und Leseforscher an der Bergischen Universität Wuppertal
Ralph Radach, Professor für Psychologie und Leseforscher, im Portrait.
Der Leseforscher Ralph Radach ist sich sicher: Viele Menschen lesen langsamer, als sie es eigentlich könnten. Bildrechte: MDR/Bergische Universität Wuppertal

Die Untersuchungen Radachs und seiner Forschungskolleginnen und kollegen legen nahe, dass Speed Reading tatsächlich funktionieren kann. Hierfür mussten die Probanden beispielsweise Texte am Bildschirm lesen, bei denen die Zeilen mit der Zeit verschwanden. Radach selbst hatte nun erwartet, dass das Verständnis bei 300 bis 350 Wörtern pro Minute stark abnehmen würde. Doch im Gegenteil: Im Bereich von 220 bis 360 Wörtern pro Minute blieb die Verständnisrate der Studienteilnehmenden nahezu konstant.

Mit moderatem Aufwand und den richtigen Techniken könne also auch innerhalb relativ kurzer Zeit eine nachhaltige Veränderung von Lesestrategien erreicht werden und die Lesegeschwindigkeit und Verständnisleistung durchaus um das eineinhalb- bis zweifache verbessert werden. "Und das deckt sich mit Erkenntnissen einer Gruppe aus Israel, die also ebenfalls so eine Technik verwendet haben", so der Leseforscher.

Wer zu langsam liest, schweift ab

Im Kern geht es beim Speed Reading also darum, unser Gehirn so schnell mit Input zu füttern, wie es auch gern gefüttert werden möchte. "Und die Erklärung ist, dass es beim Lesen so eine Art Reservekapazität gibt. Es gibt sozusagen einen Von-bis-Bereich, weil normalerweise viele Menschen langsamer lesen, als sie es eigentlich könnten", erklärt Ralph Radach.

Innerhalb eines bestimmten Von-bis-Bereichs wird unser Gehirn also weder unterfordert, noch überfordert, sondern kommt eigentlich erst so richtig in seinen idealen Drehzahlbereich. "Bei zu geringen Lesegeschwindigkeiten hat man tatsächlich das Phänomen, dass so viel mentale Kapazität übrigbleibt, dass man abschweift, dass man sich zu wenig konzentriert und sich andere Gedanken aufdrängen – im Englischen nennt man das Mind-Wandering."

Nach dem Kurs ist vor dem Kurs

Doch auch mit erfolgreichem Abschluss eines Schnelllese-Kurses ist die Arbeit nicht getan. Denn wie so oft im Leben gilt auch hier: Üben, üben, üben. "Fähigkeit und Wissen sind zwei unterschiedliche Sachen", fasst Lesetrainer Peter Stonn zusammen. "Wissen, da kann ich mir etwas anlesen, ein YouTube-Video gucken, einen Podcast hören. Aber ich kann es ja noch nicht anwenden. Du musst dich also hinsetzen und üben. Das heißt Fähigkeiten, Fertigkeiten, die funktionieren nur dann, wenn man sie eintrainiert."

PS: Sie fragen sich vermutlich jetzt – und zwar mit Recht –, ob MDR WISSEN-Reporterin Maike ihre Herausforderung bestanden hat. Die Antwort ist ... natürlich im Podcast "Meine Challenge" zu finden. Viel Spaß beim Hören.

Dieses Thema im Programm: MDR+ | Meine Challenge | 21. April 2023 | 12:00 Uhr