Ehemalige Vertragsarbeiter Botschafter ihrer Eltern: Wie Linh und Nam Vietnamesen eine Stimme geben

17. November 2019, 13:57 Uhr

Linh und Nam haben vietnamesische Wurzeln: Während Linh in Deutschland geboren ist, kam Nam vor sechs Jahren her. Sie sind die Kinder der Vietnamesen, die als Vertragsarbeiter in die DDR zogen, um zu arbeiten. Weil viele ältere Vietnamesen trotz ihrer langen Zeit in Deutschland kaum eine Stimme haben, sehen Linh und Nam sich als ihre Botschafter. Teil zwei der Serie von MDR SACHSEN-ANHALT über das Leben ehemaliger Vertragsarbeiter aus Vietnam – und die Generation nach ihnen.

Alisa Sonntag
Bildrechte: MDR/Martin Paul

"Der Gedanke war von Anfang an, ihnen eine Stimme zu geben. Die Geschichten zu erzählen, die keiner hier so richtig kennt und für die sich auch nie jemand wirklich interessiert hat", sagt Linh. Sie sitzt in einem vietnamesischen Restaurant und nippt an der hausgemachten vietnamesischen Limettenlimonade. Auf einem großen Fernseher hinter ihr laufen die Nachrichten, vor dem Fenster rauschen Autos über die Straße.

Die Geschichten, von denen Linh spricht, sind die ihrer Elterngeneration. Der Menschen, die ab Mitte der 60er Jahre als Vertragsarbeiter aus Vietnam nach Deutschland gekommen sind. Die seitdem Teil der deutschen Gesellschaft sind und viel für das Land geleistet haben – und trotzdem häufig außen vor bleiben.

Die 25-jährige Linh und ihr 24-jähriger ehemaliger Kommilitone Nam haben diese Geschichten aufgeschrieben, ursprünglich für ein Uniprojekt. Zu dem Zeitpunkt haben beide Medien- und Kommunikationswissenschaften in Halle studiert. "Ein Zeitzeugendokument", sagen sie, sollte "HanoixHalle" sein. Um dem Rest der Welt zu erklären, warum ihre Eltern so sind, wie sie sind. Und um anderen Menschen mit vietnamesischen Wurzeln die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte zu erleichtern. Sie sollen wissen, wie es den Vertragsarbeitern in der DDR ergangen ist. Linh hofft, dass so eine Art digitale Erinnerungskultur entstehen.

Arbeiten statt Sprachkurs

Dass viele Vietnamesen bis heute nur schlechtes Deutsch sprechen, obwohl sie 30 oder 40 Jahre in Deutschland leben, das hat seine Ursachen in der DDR. "Meine Eltern", erklärt Linh, "hatten nie groß die Möglichkeit, Deutsch zu lernen". Als sie in der DDR angekommen waren, hätten sie einen zweiwöchigen Deutschkurs belegt. Zwei Wochen, keinen Tag mehr. "Ich hatte in der Schule drei Jahre Französisch und da ist nicht viel hängen geblieben – wie muss das dann erst für ältere Menschen sein, wenn sie in zwei Wochen eine Sprache lernen sollen?", fragt Linh und schüttelt den Kopf. Sie hat schon Hunderte Male darüber nachgedacht.

Seitdem habe sich für ihre Eltern nicht die Möglichkeit geboten, einen intensiveren Deutschkurs zu machen. Denn dann hätten sie nicht arbeiten können. Das sei für sie weder zu DDR-Zeiten noch jetzt eine Option. Heute hätten die Eltern einen kleinen Imbiss in Halle, der sechs Tage die Woche geöffnet ist. Am Sonntag, erzählt Linh, müssten die Eltern die kommende Woche vorbereiten. Auf keinen Fall wollen ihre Eltern als Schmarotzer gesehen werden, sagt Linh. Auch deshalb helfen junge Vietnamesen wie Linh ihren Eltern bei Behördengängen. Sie schreiben Briefe für sie, übersetzen.

Das Schlimmste wäre für sie, wenn sie keine Arbeit mehr hätten.

Linh über ihre Eltern, die als Vertragsarbeiter nach Deutschland kamen

Der Mauerfall hat alle überrascht

Auch, dass viele Vietnamesen in Deutschland mit Imbissen, Spätverkäufen, Gemüseläden oder Nähstuben selbstständig sind, hat nach Meinung von Linh seine Ursachen in der DDR. "Der Mauerfall war eine Überraschung für uns alle", zitieren Linh und Nam in "HanoixHalle" einen ehemaligen Vertragsarbeiter: "Von heute auf morgen standen wir vor dem Nichts." Wie auch viele Deutsche verloren die Vertragsarbeiter mit dem Ende der DDR ihren Job. Ohne Arbeitserlaubnis und Sprachkenntnisse waren ihre Möglichkeiten begrenzt. Aber ohne Arbeit war auch ihre Aufenthaltserlaubnis gefährdet. So bauten viele Vietnamesen aus dem Nichts Gewerbe auf.

Wir waren mehrere Männer, die alle keine Arbeit fanden und nicht nähen und nicht kochen konnten. Also haben wir selbst überlegt, wie wohl chinesische Küche geht. Einer konnte das ein bisschen, der hat es dann erklärt. Der Rest hielt zusammen und innerhalb weniger Monate arbeiteten wir alle in einem kleinen Imbiss.

Ein ehemaliger Vertragsarbeiter über die Zeit nach der Wende

"Auf einmal waren die Vietnamesen da", das habe sie in Deutschland schon oft gehört, sagt Linh. Für sie klinge das abwertend. Dabei seien ihre Eltern mit dem Bistro in Halle anerkannt. Sie hätten engen Kontakt mit ihren Kunden und machten immer Späße mit ihnen: "Da sind Menschen dabei, die kennen sie schon zehn, fünfzehn Jahre, die haben sie aufwachsen sehen." Wenn ihre Eltern in Halle unterwegs seien, würden sie häufig von allen Seiten gegrüßt.

Sprachbarriere zwischen Eltern und Kindern

Im Vergleich mit anderen vietnamesischen Eltern, sagt Linh, sprechen ihre Eltern verhältnismäßig gut Deutsch. Linh spricht selbst auch Vietnamesisch. Ein Problem, das vielen anderen vietnamesische Familien haben, hat die Familie von Linh somit nicht: die Sprachbarriere. Teilweise fällt es den Kindern ehemaliger Vertragsarbeiter schwer, komplexe Themen mit ihren Eltern zu besprechen. Denn es fehlt die gemeinsame Sprache.

"Viele meiner Freunde, die hier geboren sind, bereuen, dass sie sich nicht die Zeit genommen haben, Vietnamesisch zu lernen", erzählt Nam. Jetzt könnten sie ihre Probleme nur schwer mit ihrer Familie besprechen: "Man kann eben keine Emotionen ausdrücken, wenn man nicht kommunizieren kann."

Doch nicht nur kommunikativ sind die Generationen gespalten. Auch, wenn es um Familie und Erziehung geht, müssen Kinder vietnamesischer Eltern oft Konflikte ausfechten. Nam ist in Vietnam geboren und erst vor etwa sechs Jahren nach Deutschland gekommen. Vietnamesische Eltern seien oft überbesorgt, erzählt er: "Meine Eltern haben mir nur erlaubt, nach Deutschland zu ziehen, weil ich hier noch Verwandte hatte."

Wertekonflikte zwischen Kindern und ihren Eltern

Für Linhs Eltern sei es schwierig gewesen, als sie zum Studieren von zu Hause ausgezogen sei – obwohl ihre Eltern ihr sonst viele Freiheiten ließen. "Sie haben das nicht verstanden und gefragt, ob es mir zuhause nicht gefällt und ob sie etwas falsch gemacht hätten", erzählt Linh. Aus Vietnam seien ihre Eltern es gewohnt, dass mehrere Generationen ein Leben lang in einem Haus lebten, oft gemeinsam mit weiteren Tanten und Onkeln und den Großeltern.

Manchmal ist es aber auch anders herum und Linh versteht ihre Eltern nicht. Beispielsweise, dass sie nie etwas Negatives über die DDR sagen würden: "Sie zeigen immer einfach nur Dankbarkeit", erzählt Linh und sagt, dass das für sie schwer nachvollziehbar sei – bei allem, was passiert sei: "Mich macht es wütend, dass sie so wenig Möglichkeiten hatten."

Die meisten ehemaligen Vertragsarbeiter würden sich nicht über die Diskriminierung beschweren, die sie erfahren haben. Dennoch: Linh sagt, dass es schwierig war, Zeitzeugen für ihr Projekt zu finden. Viele Vietnamesen befürchteten Strafen vom deutschen oder vom vietnamesischen Staat, wenn sie Negatives äußerten. Das ist auch der Grund, warum Linh und Nam in diesem Text nur beim Vornamen genannt werden. Linhs Vater ist Teil von "HanoixHalle". Seinen vollen Namen möchte er nicht veröffentlicht wissen.

Zwischen den Stühlen

Aus der Küche des vietnamesischen Restaurants klingen nun laute Jubelgeräusche, ein Moderator im Fernsehen sagt etwas auf Vietnamesich. Es läuft Fußball. Linh erzählt von früher. Zwischen Deutschland und Vietnam ihre eigene Identität zu finden, sei für sie als Teenager nicht leicht gewesen, erzählt Linh. Sie spricht so routiniert über das eigentlich sehr private Thema, dass klar wird, wie oft sie gezwungen war, darüber nachzudenken.

In Deutschland gelte ich aus Ausländerin – egal, wie perfekt ich Deutsch spreche. In Vietnam aber auch, denn mein Vietnamesisch hat einen deutschen Akzent.

Linh über die Suche nach ihrer Identität

Unzählige Male habe sie als Jugendliche über ihre Identität nachgedacht. Sie erzählt: "Ich habe mich geschämt dafür, was meine Eltern tragen und was sie essen. Es war mir unangenehm, dass es immer vietnamesisches Essen gab, ich wollte unbedingt deutsches Essen, wie bei meinen Freunden."

Die Familie habe zu der Zeit im Neubaugebiet Halle-Neustadt gelebt und dort auch rassistische Erfahrungen gemacht. "Nach unserem Umzug hatte eine ältere Nachbarin einen richtigen Hass auf uns", erzählt Linh. Die Frau habe immer geklingelt oder sich bei der Wohnungsgenossenschaft über die Familie beschwert: Sie sei laut, dreckig, die Kinder hätten die Treppe beschmiert, zerstört. "Nichts davon hat gestimmt", sagt Linh, "unsere Eltern haben sehr darauf geachtet, dass wir immer mucksmäuschenstill und vorsichtig waren." Doch nach drei Monaten musste die Familie ausziehen. Die Genossenschaft sagt ihren Eltern, sie glaube ihnen – aber könne nichts machen.

Bildung ist das höchste Gut

Solche Erlebnisse hätten auch ihre Eltern geprägt. Zu Hause habe es oft Moralpredigten gegeben: "'Du musst dich anstrengen, du bist Vietnamesin!' – das haben meine Eltern mir oft gesagt", erzählt Linh. Sie hätten schon immer Angst gehabt, dass ihre Tochter wegen ihrer Herkunft benachteiligt würde. Und angestrengt hat Linh sich wirklich. Ihr ist es wichtig, wertzuschätzen, was ihre Eltern ihr ermöglicht haben.

Bildung sei zu Hause immer das höchste Gut gewesen, erzählt auch Nam. Die ehemaligen Vertragsarbeiter hätten selbst nie eine Chance auf ein sorgenfreies Leben gehabt – deswegen sei das jetzt alles, was sie sich für ihre Kinder wünschten. Nam erzählt von seiner Tante und seinem Onkel, die für ihn in Deutschland wie "zweite Eltern" seien: "'Wenn ich hier bleiben will, muss ich besser werden', sagen sie immer."

Harte Arbeit ist selbstverständlich

Bildung sei der einzige Ausweg, um nicht wie die Eltern pausenlos arbeiten zu müssen, sagt auch Linh. Auch die Eltern wüssten das. Deswegen sei eigentlich auch schon immer klar gewesen, dass Linh Abitur machen und studieren würde: "Eine Ausbildung wäre wahrscheinlich nicht gegangen", sagt sie.

Linh und Nam sind heute froh über ihre vietnamesischen Wurzeln. "Ich verstehe nicht mehr, wie ich mir das damals weg wünschen konnte", sagt Linh. Nam ergänzt: "Eigentlich ist es ein Vorteil, dass wir Input von verschiedenen Kulturen bekommen." Und: "Wir haben von unserer Familie in Deutschland gelernt, nicht über harte Arbeit oder geringen Lohn zu meckern wie andere. Für uns ist harte Arbeit selbstverständlich."

Das vietnamesische Restaurant, in dem sie sitzen, hat schließlich auch sechs Tage in der Woche geöffnet. Zehneinhalb Stunden am Tag.

Alisa Sonntag
Bildrechte: MDR/Martin Paul

Über die Autorin Neugierig ist Alisa Sonntag schon immer gewesen – mit Leidenschaft auch beruflich. Aktuell beendet sie ihre Master in Multimedia und Autorschaft und International Area Studies in Halle. Dabei schreibt sie außer für den MDR SACHSEN-ANHALT unter anderem auch für das Journalismus-Startup The Buzzard.

Quelle: MDR/aso

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 17. November 2019 | 19:00 Uhr

1 Kommentar

kb232km am 16.11.2019

Ein sehr informativer Beitrag über Deutsche mit vietnamesischen Wurzeln. Als ehemaliger Lehrer (Gymnasium) kann ich bestätigen, dass deren Kinder sehr diszipliniert und wissbegierig sind. Oft gehörten sie zu den leistungsstärksten in der Klasse. - Sehr sympathische Mitbürger, die unsere Gesellschaft bereichern.

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