Drei Personen sitzen an Tischen in der Bahnhofsmission. 28 min
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Reportage In der Magdeburger Bahnhofsmission: "Hier muss man keine Nummer ziehen"

07. Dezember 2023, 13:56 Uhr

Die erste Bahnhofsmission gründete ein evangelischer Pfarrer vor 125 Jahren in Berlin. Frauen, die auf Arbeitssuche in die Großstadt kamen, sollten dort Schutz und Hilfe finden. Heute gibt es bundesweit 104, die meist 365 Tage im Jahr geöffnet sind. Als Orte der Nächstenliebe würdigte sie Bundespräsident Steinmeier zum Jubiläum. Sie seien "immer noch unverzichtbar". Sissy Metzschke erkundete 2019 in Magdeburg, was die fünf Mitarbeiter und 15 Ehrenamtlichen dort leisten.

Magdeburg, Hauptbahnhof. 40.000 Menschen steigen hier täglich ein oder um. Manche freuen sich, dass ihnen die "Blauen Engel" dabei helfen. Sie sind nicht nur da für Menschen, die vielleicht auf einem der Bahnsteige stranden, sondern für die, die kommen, weil sie ein warmes Essen, neue Kleidung oder ein paar persönliche Worte brauchen. 365 Tage im Jahr.

Was Nächstenliebe bedeutet

Florian Sosnowski leitet die Bahnhofsmission der Elbestadt und erklärt:

Mit Sissy Metschke in der Bahnhofsmission
Bahnhofsmissionsleiter Florian Sosnowski Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Man muss hier weder eine Nummer ziehen noch irgendeinen sozialen Pass vorweisen oder besonders mitgenommen aussehen. Jeder, der auf irgendeine Art Hilfe benötigt, kann hierher kommen.

Florian Sosnowski Leiter der Magdeburger Bahnhofsmission

Die Magdeburger Bahnhofsmission steht unter kirchlicher Trägerschaft, wird von der Stadt unterstützt, die Räumlichkeiten stellt die Deutsche Bahn zur Verfügung. An vier Tagen in der Woche gibt es ein warmes Essen. Es wird entweder selbst gekocht oder aufgewärmt.

Mit Sissy Metschke in der Bahnhofsmission
Mehr als ein Zwischenstopp Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die fünf festangestellten und 15 ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen flexibel sein, denn sie wissen nie, wieviel und was gespendet wird. Gemeinsam mit der stellvertretenden Leiterin Gabriele Bolzek sortiert Florian Sosnowski regelmäßig und überlegt auch mal, was sich wohl aus einer Jackfrucht machen ließe. Auf die Frage, wer zu ihnen kommt, sagt er, entgegen dem Klischee seien das nicht nur Wohnungslose: "Das ist nicht das überwiegende Klientel."

Einen Moment Ruhe finden und unter Menschen sein

Eveline Baranek ist 65, sie hat sechs Kinder groß gezogen und lebt heute von Mindestrente. Sie schwärmt, der Kaffee in der Bahnhofsmission sei der beste in ganz Magdeburg. Außerdem finde sie dort immer jemanden zum Reden. Auch Kerstin Kersten kommt fast täglich vorbei. Vor 14 Jahren hatte sie einen schweren Verkehrsunfall. Ihre Töchter saßen mit im Auto. Eine der beiden leidet an Epilepsie. Sie glaubt, dass der Schock die Erkrankung mit auslöste. Sie selber kämpft bis mit chronischen Schmerzen. Aber: So lange sie unter Leuten und auf den Beinen sei, könne sie die verdrängen. Tamara Laddey kommt, um zu basteln. Die 60Jährige ist obdachlos, in der Mission findet sie Ruhe und Raum für ihr Hobby. Hier kann sie für einen Moment loslassen und entspannen.

Mit Sissy Metschke in der Bahnhofsmission
Eveline Baranek schwört auf den Kaffee Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Hier wird niemand schief von der Seite angeschaut. Das fehlt mir außerhalb der Bahnhofsmission manchmal.

Eveline Baranek Besucherin

Feste Regeln

Die Magdeburger Bahnhofsmission ist für viele ihrer Besucher nicht nur ein kurzer Zwischenstopp. Jeder einzelne Gast wird herzlich empfangen. Dennoch gibt es Regeln. Das Trinken von Alkohol sei in den Räumen nicht erlaubt, stellt Leiter Florian Sosnowski klar. Das führt auch zu Konflikten. Etwa wenn die Mitarbeiter eines benachbarten Ladens drohen die Polizei zu rufen, weil vor der Mission ein sichtlich angetrunkener Mann liegt, der nicht geht, auch deshalb weil er die Aufforderung erstmal nicht versteht: "Das Blöde ist, er könnte sich normalerweise bei uns aufhalten, aber da er Alkohol getrunken hat, drin, hat er zwei Wochen Hausverbot", erklärt Sosnowski, "Wir müssen da rigoros sein." Falsch verstandenes Mitleid bringe niemandem was."

Nicht denkbar ohne Ehrenamtliche und Spenden

Die Mitarbeiter kennen viele der Besucher mit Namen und versuchen, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Jana Brosius unterstützt das Team schon seit fünf Jahren. Die 33-Jährige arbeitet als Reinigungskraft, verdient nicht viel und muss mit Hartz IV aufstocken. Sie helfe ehrenamtlich, um der Gesellschaft etwas zurückzugeben, sagt sie:

Mit Sissy Metschke in der Bahnhofsmission
Jana Brosius will "was zurückgeben". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Alles, was selbstverständlich scheint, haben manche nicht. Da lernt man schon eine gewisse Demut.

Jana Brosius Ehrenamtliche Helferin
Mit Sissy Metschke in der Bahnhofsmission
Wer basteln will ... Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Bärbel Schoch engagiert sich bereits seit 1992 ehrenamtlich bei der Magdeburger Bahnhofsmission. In all den Jahren hat sie viel gesehen und nach eigenem Bekunden vor allem eins gelernt: "Man sollte die Leute nicht von oben angucken." Hilfsbedürftig könne man schneller werden als man denke. Manche Schicksale gehen ihr immer noch nah. Früherhabe sie zuhause drüber reden können, wenn etwas Besonderes vorgefallen sei. Doch im November sei ihr Mann gestorben. Umso mehr empfindet sie die Freude bei den Frauen und Männern, denen sie helfen kann, als Geschenk und Bereicherung.

Mit Sissy Metschke in der Bahnhofsmission
Bei den Vorbereitungen fürs Essen Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

In der Vorweihnachtszeit erhält die Bahnhofsmission besonders viele Kleiderspenden. Im Schnitt drei Säcke pro Tag. Darunter manchmal auch feine Robe, erzählt Bärbel Schoch. Hier seien im Winter aber eher warme Kleidung und feste Schuhe gefragt, schmunzelt sie. Ist die Kleiderkammer vor Ort voll, wird der Rest an die Deutsche Kleiderstiftung weitergegeben. Es sei schön, dass vor Weihnachten viele ihr Herz entdeckten, meint sie. Die Magdeburger Bahnhofsmission aber arbeite das ganze Jahr. Man sei auf Spenden angewiesen. Auf Ehrenamtliche sowieso.

Mit Sissy Metschke in der Bahnhofsmission
Bärbel Schoch ist seit 1992 dabei. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Vor Weihnachten entdecken viele ihr Herz, aber wir brauchen Spenden und Ehrenamtliche, die helfen wollen, übers ganze Jahr.

Bärbel Schoch Ehrenamtliche Helferin

In größeren Städten wie Berlin oder Frankfurt/Main haben die Missionen durchgehend für ihre Besucher auf. In Magdeburg sind es auch 365 Tage im Jahr, insgesamt aber nur 75 Stunden in der Woche. Es fehlt an Helfern. So ist meist um 18 Uhr Schluss. Dann verschwinden die Besucher in der Dunkelheit. Viele von ihnen werden am nächsten Tag wohl wieder da sein. In der Magdeburger Bahnhofsmission.

Mit Sissy Metschke in der Bahnhofsmission
Nach 18 Uhr ist Schluss. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Reportage aus dem Jahr 2019

Stichwort: Magdeburger Bahnhofsmission, Gleis 5 Die Magdeburger Bahnhofsmission hat 365 Tage im Jahr geöffnet. Sie steht unter kirchlicher Trägerschaft. Und wird zusätzlich von der Stadt Magdeburg finanziert. Die Räumlichkeiten stellt die Deutsche Bahn zur Verfügung. An vier Tagen gibt es warmes Essen. Meist ist um 18 Uhr Schluss. Ehrenamtliche Helfer werden immer gesucht.

Die erste Bahnhofsmission wurde vor 125 Jahren in Berlin gegründet. Von einem evangelischen Pfarrer. Ursprünglich um allein reisenden Frauen Schutz zu bieten.

Heute kann jeder die Hilfe in Anspruch nehmen. Aber es gibt Regeln. Das Trinken von Alkohol ist in den Räumen nicht erlaubt. Wer sich nicht dran hält, bekommt in Magdeburg für zwei Wochen keinen Zutritt.

Stichwort: Reisehilfe Ein-, Aus- und Umstiegshilfen können am Magdeburger Hauptbahnhof vor Reiseantritt anfragt werden. Die Aufträge teilen sich die "Blauen Engel" mit der Deutschen Bahn. Aber auch sonst sind die Mitarbeiter der Bahnhofsmission regelmäßig an den Gleisen.

Stichwort: Vor 125 gegründet Die erste Bahnhofsmission wurde 1894 am Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof, von Pastor Johannes Burckhardt gegründet.

Berlinerinnen aus den katholischen, evangelischen und jüdischen Gemeinden wollten Frauen helfen, die aus dem ländlichen Raum nach Berlin auf Arbeitssuche kamen, etwa gegen Ausbeutung oder auch vor sexuellen Übergriffen.

Bundespräsident Steinmeier würdigte ihre Arbeit im Jubiläumsjahr immer noch als "unverzichtbar".

Bundesweit gibt es 104 Bahnhofsmissionen, meist in evangelischer, katholischer oder ökumenischer Trägerschaft.

Rund 2.000 Ehrenamtliche engagieren sich darin. Sie leisten jährlich rund 800.000 Stunden.

Geboten wird auch Reisehilfe, etwa 350.000 Mal im Jahr.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 29. Dezember 2023 | 22:40 Uhr