Reportage Schicht im Schacht für Bischofferode: "Die Leute sind gallig"
Hauptinhalt
27. Juni 2023, 10:27 Uhr
Das Kaliwerk der kleinen thüringischen Gemeinde im Eichsfeld war zu DDR-Zeiten einer der größten Arbeitgeber der Region. Oft waren ganze Familien dort über Generationen beschäftigt. Nach der Wende kam das Aus. Trotz verzweifelter Proteste und einem bundesweit für Schlagzeilen sorgenden Hungerstreik wurde das Werk 1993 geschlossen. Wir blicken zurück und haben Kumpel wie den ehemaligen Schachtarbeiter Herbert Kinder 30 Jahre danach noch einmal besucht.
Das Salz gab den Bischofferödern über fast ein Jahrhundert hinweg ihre Identität. Um 1900 wurden in der Region reiche Lagerstätten gefunden, erste Schachtanlagen entstanden und damit eine ganze Infrastruktur. Noch 1990 fördern die Kumpel in Bischofferode rund drei Millionen Tonnen Kalirohsalz im Jahr, ein begehrter Rohstoff vor allem für Düngemittel in der Landwirtschaft und die chemische Industrie.
Aus für den DDR-Vorzeigeschacht "Thomas Müntzer"
Für die DDR war der Schacht "Thomas Müntzer" in Bischofferode ein Vorzeigebetrieb und Kali eine sichere Devisenquelle für den chronisch klammen Staatshaushalt.Tausende Menschen wurden dort beschäftigt. Das Salz bestimmte das Leben von ganzen Familien über Generationen hinweg, der Schacht war zweite Heimat.
Man war stolz, Bergmann zu sein. Das ist ja ein Betrieb, wo die Großväter schon gearbeitet haben, die Väter und wir, und unsere Kinder sollten hier auch weiterarbeiten.
Wut auf die Treuhand, Hungerstreik in der Betriebskabine
Nach der Wende brach die für sicher gehaltene Welt mit einem Schlag zusammen. Die ostdeutsche Kali-Industrie sollte mit der westdeutschen fusionieren – das Ende von Bischofferode wurde im Dezember 1992 durch die Treuhand besiegelt. Von zehn Salz-Bergwerken bleiben im Osten nur drei. K + S übernimmt die Kaliwerke in Zielitz und Unterbreizbach sowie das Steinsalzwerk in Bernburg. Bischofferode teilte hingegen das gleiche Schicksal vieler anderer Großbetriebe im Osten. Mit der Schließung fielen nicht nur rund 1.900 Arbeitsplätze weg, es ging eine Ära zu Ende, die Identität der Region wurde erschüttert.
Wut, Verzweiflung und Resignation entlud sich in massiven Protesten. 1993 kämpften die Kumpel ein Jahr lang um ihre Arbeit. Seinen dramatischen Höhepunkt erreichte der Protest im Sommer, als zwölf Bergschachtarbeiter über Wochen in den Hungerstreik traten.
Das war dann Wahnsinn, da kriegt man Gänsehaut. Und im Nachhinein kommen dann die Politiker, der Vogel, und der sagt dann: Ja, wir unterstützen euch, dass ihr weitermachen könnt. Und im Grunde genommen hat er schon beschlossen, dass wir geschlossen werden. Und diese Lügen und Falschheit der Politiker, das hat allen eigentlich erst die Wut gebracht, dass man so belogen und betrogen wurde.
Niedergang einer Region in Thüringen
Mit ihrem Widerstand gegen die Schließung konnten die Bischofferöder Kumpel den Politikern wenigstens Zugeständnisse abringen: zwei Jahre Beschäftigungsgarantie in einer Auffanggesellschaft für alle. Doch tatsächlich waren die Arbeiten, die jetzt noch zu erledigen waren, für die Mehrheit sehr unbefriedigend: bloße Beschäftigungsmaßnahmen eben. Am 15. Dezember 1993 wurde die Fusion trotz kartellrechtlicher Bedenken genehmigt – an den folgenden Protestaktionen beteiligen sich nur noch wenige Kumpel. Die, die konnten, zogen weg, dahin, wo es Arbeit gab. Andere verfielen dem Alkohol, einige nahmen sich das Leben. Zum Zeitpunkt der Schließung des Werkes lebten knapp 2.700 Menschen in dem Dorf. 20 Jahre später war ein Drittel weggezogen. Der Verlust der Kali-Arbeitsplätze und der Wegzug vieler bedeutete einen Niedergang der Region.
Was vom Bergbau übrig blieb
20 Männer arbeiteten 20 Jahre nach der Schließung noch im Schacht, um das alte Bergwerk zu sichern. Herbert Kindler war einer von ihnen. Seine Perspektive: Noch zwei bis drei Jahre Verwahrungsarbeiten in den Stollen. Dann sollten alle gefährdeten Stellen verfüllt und stabilisiert sein. Was vom Kali-Bergbau bleiben würde? Ein 20 Millionen Kubikmeter großer Hohlraum, ein Labyrinth überwacht von unzähligen Messstellen. Über die stolze Geschichte des Kali-Bergbaus erzählt nun ein Museum, das der Kali-Verein von Bischofferode im Keller der ehemaligen Betriebsambulanz eingerichtet hat.
Irgendwann wird es vielleicht mal so werden, wie im Erzgebirge, dass unsere Nachfahren sich an die Tradition wieder erinnern und das Leben der Bergleute wieder aufblüht.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 01. Mai 2024 | 07:25 Uhr