Das Kohlekraftwerk Turow des Energiekonzerns PGE Polska Grupa Energetyczna.
Der Tagebau und das Kraftwerk Turów stehen sinnbildlich für Polens Energiepolitik, die vor allem auf fossile Brennstoffe setzt. Bildrechte: imago images/photothek

Wem Polens Kohlelobby die Schuld an hohen Energiepreisen gibt

21. Februar 2022, 17:49 Uhr

Auch in Polen sind die Stromkosten enorm gestiegen. Das belastet die Menschen sehr und befeuert die Inflation. Die Energieversorger haben nun einen Schuldigen ausgemacht. Wer das ist, erklären sie auf riesigen Plakaten.

Porträt Aleksandra Syty
Bildrechte: Aleksandra Syty/MDR

Die Preise steigen, das spüren die Menschen in ganz Europa. In Polen liegt die Inflationsrate derzeit bei 9,2 Prozent, in Deutschland dagegen "nur" bei 4,9 Prozent. Heizen wird teurer, Lebensmittel werden teurer, viele kleine Unternehmen und Privathaushalte geraten in Existenznot. Und das, während der konservativen PiS-Regierung in Polen gerade wegen einer missglückten Steuerreform der Unmut der Bevölkerung entgegenschlägt. Die PiS-Regierung muss gegensteuern, um den sozialen Frieden zu wahren: So hob sie die Mehrwertsteuer für Grundnahrungsmittel auf und senkte die Benzinpreise um etwa 15 Cent pro Liter. Diese Maßnahmen gelten allerdings nur bis Juli.

Teure Desinformation

Einen länger anhaltenden Effekt verspricht da möglicherweise eine Kampagne gegen die EU. Ihre einfache Formel lautet: "Klimapolitik der EU = teure Energie und hohe Preise". Auf den Straßen Polens und im Internet sind die Slogans mit der Glühlampe als Erkennungsmerkmal allgegenwärtig. Sie behaupten, eine EU-Klimasteuer würde 60 Prozent der Produktionskosten für Strom ausmachen. Hinter der Aktion steht eine Vereinigung mehrheitlich staatlicher Betreiber von Kohlekraftwerken. Sie lässt sich die Kampagne satte 12 Millionen Złoty, umgerechnet mehr als 2,5 Millionen Euro, kosten.

Dagegen legen Berechnungen des renommierten polnischen Think Tanks Forum Energii nahe, dass es sich bei der Kampagne um eine großangelegte Manipulation handelt. Denn die Kosten für CO2-Zertifikate machten nur 23 Prozent der Verbraucherpreise für Energie aus. Die Energieversorger aber erweckten mit ihren Slogans den Eindruck, also ob "jeder von uns mit seiner Stromrechnung hauptsächlich für die Emissionszertifikate zahlt, und zwar bis zu 60 Prozent. In Wirklichkeit ist dies nicht der Fall," stellen Tobiasz Adamczewski und Marcin Dusiło von Forum Energii in einer Analyse auf der Webseite der Organisation klar. "Sie richtet zudem einen anderen großen Schaden an – sie lenkt die Aufmerksamkeit von den grundlegenden Problemen des polnischen Energiesektors ab", so die Vertreter von Forum Energii weiter.

Einnahmen aus CO2-Zertifikaten bleiben in Polen

Und auch die EU-feindliche Stimmungsmache sehen Marketing-Expertinnen wie Anna Mierzyńska kritisch: "Wir haben es mit der üblichen Desinformations- und Propagandakampagne zu tun, das kann man weder Aufklärung noch Information nennen. Wenn die Initiatoren dieser Kampagne wirklich hätten aufklären wollen, hätten sie den Polen erklären müssen, worum es bei der EU-Klimaabgabe und der gesamten EU-Klimapolitik geht." Umweltaktivisten von Greenpeace überklebten die Plakate mit pinkfarbenen Kommentaren. Die Polizei war allerdings prompt zur Stelle und entfernte die Korrekturen.

Was die Kampagne von der angeblichen 60-Prozent-Klimasteuer der EU auch verschweigt ist, wohin die Einnahmen aus den Emissionszertifikaten eigentlich fließen. Nämlich nicht etwa nach Brüssel, sondern direkt ins polnische Staatsbudget. Allein in den letzten drei Jahren sind so über elf Milliarden Euro im Staatshaushalt gelandet. Verwendet werden sollen diese Mittel hauptsächlich, um den polnischen Energiesektor umzugestalten, der bisher überwiegend auf fossile Energieträger setzt. Doch das geschieht bisher nur in Ansätzen.

Schenkt man der Kampagne der polnischen Energieunternehmen Glauben, gehen also 60 Prozent einer jeden Energierechnung an die EU. Diese Behauptung dürfte vor allem Kleinbetriebe gegen die EU aufbringen, denn sie sind von den enorm gestiegenen Energiepreisen besonders betroffen. Jan Klimek, Präsident der Handwerkskammer von Katowice und Vizepräsident des polnischen Handwerksverbandes, schildert, was die Preisanstiege für einen kleinen Bäckereibetrieb bedeuten: "Wir wurden von Unternehmern angesprochen, die früher 4.000 Złoty für Gas bezahlt haben und jetzt 19.500 Złoty pro Monat zahlen müssen. Und das in einem Familienbetrieb, in dem zwei Leute backen und zwei Leute verkaufen. Für sie ist es untragbar."

Menschenschlange vor dem legendären Süßwarengeschäft "Pacownia Cukiernicza Zagozdzinski"  in Warschau
Vor einigen Bäckereien stehen die Menschen am "Fetten Donnerstag" Schlange um besonders gute Pfannkuchen zu ergattern. Bildrechte: imago images/Eastnews

Bittere Pille am süßesten Tag des Jahres

Vor allem Bäckereien dürften sich gerade Gedanken machen, wie sie in diesem Jahr den "süßesten aller Tage" ohne bitteren Beigeschmack überstehen. Am "Fetten Donnerstag" (24. Februar), dem Tag vor Beginn der österlichen Fastenzeit, stehen die Menschen auf Polens Straßen nämlich oft stundenlang vor den Bäckereien Schlange. Und das nur, um viele der heiß begehrten Pfannkuchen abzubekommen. Jedes Jahr essen die 38 Millionen Polen anlässlich des "Fetten Donnerstags" bis zu 100 Millionen der frittierten Hefeteilchen. Damit die Bäcker bei der Produktion nicht draufzahlen, müssen sie in diesem Jahr den Preis pro Pfannkuchen allerdings um etwa 10 Cent erhöhen. Oder kleinere Pfannkuchen backen. Sorglos genießen kann den "Fetten Donnerstag" in diesem Jahr wohl niemand, weder vor noch hinter der Verkaufstheke.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 16. Februar 2022 | 13:59 Uhr

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