Protest gegen die Verletzung von Frauenrechten in Polen Menschen demonstrieren vor einer Polizeistation während des Protests „Solidarität mit Joanna“ in Krakau, 25.7.2023.
Protest nach einem Polizeiübergriff gegen eine Frau, die ihre Schwangerschaft zu Hause mit Hilfe von Medikamenten abgebrochen hat. Bildrechte: IMAGO/NurPhoto

Sittenwächter in Uniform Wie die polnische Polizei Frauen wegen Abtreibungsverdachts demütigt

12. August 2023, 16:16 Uhr

Polens Polizisten treten immer häufiger als Sittenwächter auf, die das nahezu vollständige Abtreibungsverbot rigoros überwachen. Die Beamten sind sich für fast nichts zu schade – selbst eine Klärgrube wird auf der Suche nach einem Fötus abgepumpt. Die der Abtreibung verdächtigten Frauen werden wie Kriminelle behandelt. Demütigende Polizeieinsätze gegen "Abtreibungssünderinnen" sorgen landesweit für Aufsehen. Die Folge: Immer mehr Schwangere suchen sich einen Arzt im Nachbarland Tschechien.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Cezary Mariusz Bazydlo
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Ola aus Warschau ist 41, verheiratet und Mutter eines dreijährigen Sohnes. Ihre Freude ist riesig, als sie endlich wieder schwanger wird. Sie will unbedingt ein zweites Kind, hat aber bereits zwei Fehlgeburten hinter sich. Diesmal scheint alles gut zu laufen. Doch in der 18. Schwangerschaftswoche bekommt sie plötzlich "unbeschreibliche Schmerzen" im Unterleib. Sie schafft es gerade noch auf die Toilette. "Dort schoss es regelrecht aus mir heraus", erzählt Ola der Frauenzeitschrift "Wysokie Obcasy". Die WC-Schüssel ist voller Blut – eine Fehlgeburt. Sie wird ins Krankenhaus gebracht und operiert.

Fehlgeburt oder illegale Abtreibung?

Als sie wieder zu sich kommt, ruft sie ihren Mann an, um zu sagen, dass sie das Schlimmste hinter sich hat. Doch weit gefehlt! Neben ihrem Mann steht ein Polizist, der ihm das Handy aus der Hand nimmt und ein Verhör beginnt. Offenbar hat eine Rettungssanitäterin sie bei der Polizei denunziert – sie soll illegal mit Hilfe von Medikamenten abgetrieben haben. Im Krankenhaus tauchen Polizisten auf, die Olas Zimmer bewachen, ihr in der Station auf Schritt und Tritt folgen und eine Blutabnahme erzwingen.

Wenig später taucht vor Olas Haus ein Saugwagen auf – die Staatsanwältin hat angeordnet, dass die Klärgrube auf der Suche nach dem abgestorbenen Fötus abgepumpt wird. Offenbar vermutet sie, das Ola keine Fehlgeburt,, sondern eine illegale Abtreibung hatte. Im Haus lässt sie Stäbe in Abwasserleitungen stecken – der Fötus könnte ja irgendwo in den Rohren stecken geblieben sein. Doch nichts ist zu finden. Die Staatsanwältin will nicht lockerlassen und fordert die Saugwagenbesatzung auf, den Inhalt der Klärgrube noch einmal zu untersuchen – und diesmal durch ein Sieb zu pumpen! Doch diese weigert sich, die absurde Anordnung auszuführen. Als Beweis werden Olas Damenbinden, ihre Legginshose und ihr Blut vom Fußboden gesichert. Fünf Monate später wird das Verfahren aber ohne Ergebnis eingestellt.

Wann ist eine Abtreibung inn Polen zulässig?

Eine Abtreibung ist in Polen nur in zwei Fällen zulässig – wenn das Leben der Frau durch die Schwangerschaft in Gefahr ist und wenn die Schwangerschaft durch Inzest oder eine Vergewaltigung entstanden ist.

Bis zu einem Urteil des Verfassungsgerichts vom 23. Oktober 2020 war eine Abtreibung auch zulässig, wenn der Fötus irreversibel geschädigt war oder das ausgetragene Kind eine schwere, nicht heilbare Behinderung, etwa das Down-Syndrom, hätte. Diese Regelung wurde jedoch von den Verfassungsrichtern kassiert. Dies war bis dahin der bei weitem häufigste Abtreibungsgrund in Polen.

Wer eine Abtreibung illegal durchführt, Beihilfe dazu leistet oder eine Schwangere zur Abtreibung anstiftet, wird nach Artikel 152 des polnischen Strafgesetzbuchs mit bis zu drei Jahren Haft bestraft. Die Schwangere selbst bleibt aber straffrei.

Ärzte können die Durchführung einer gesetzlich zulässigen Abtreibung mit Verweis auf die so genannte Gewissensklausel ablehnen. Sie sind dann allerdings verpflichtet, der Schwangeren eine andere "reale Möglichkeit" (Arztpraxis oder Klinik) zur Betroffene Frauen klagen aber oft, dass sie in der Praxis keine solche Information bekommen.

Die Anwältin Aleksandra Kosiorek, die sich auf Medizinrecht spezialisiert hat, lässt an dem Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft kein gutes Haar. Eine Fehlgeburt sei keine Straftat, somit sei die gesamte Suchaktion grundlos gewesen. Doch selbst wenn der Verdacht einer Straftat im Raum gestanden hätte, verstoße ein telefonisches Verhör im Krankenhausbett gegen die Regeln. Die Polizei hätte Ola im Nachhinein zu einer Vernehmung vorladen sollen. Eine Blutabnahme und das Abpumpen der Klärgrube waren Kosiorek zufolge nicht nötig gewesen – zur Ausräumung des Tatverdachts hätte ein Blick in Olas Patientenakte gereicht.

Auf das Stichwort 'Abtreibung' hin läuft der polnische Staat Amok und startet ohne ersichtlichen Grund chaotische Prozeduren. Das geht in eine gefährliche Richtung. Die Polizei hat etliche Rechtsvorschriften gebrochen.

Aleksandra Kosiorek, Anwältin für Medizinrecht

Olas Fehlgeburt liegt ein Jahr zurück. Die Frau hat sich aber erst jetzt zu Wort gemeldet, nachdem ein anderer, ähnlich rabiater Polizeiübergriff bekannt geworden war – der Fall von Joanna aus Krakau. Die Frau leidet seit längerem unter psychischen Problemen. Während der Schwangerschaft verschlechtert sich ihr Zustand. In einer Panikattacke nimmt sie "Abtreibungspillen" ein. Völlig aufgelöst ruft sie danach ihre Ärztin an – die sie bei der Polizei anzeigt, auch mit der Begründung, ihre Patientin hätte Selbstmordgedanken, was Joanna allerdings verneint.

Polizei im Dienste der PiS-Partei

Frauen bei einer Demonstration gegen Missachtung von Frauenrechten in Polen
Joanna wirft der polnischen Polizei psychische Misshandlungen nach einer Abtreibung vor. Bildrechte: IMAGO / NurPhoto

Es folgt ein regelrechtes Martyrium. Joanna wird unter Polizeieskorte in ein Krankenhaus gebracht. In der Notaufnahme muss sie sich bis auf die Unterhose ausziehen, wird genötigt Kniebeugen zu machen und zu husten – bewacht von mehreren Polizisten und erst später auch Polizistinnen, die auch die Ärzte einzuschüchtern versuchen und ihnen Joannas Versorgung erschweren. Die Frau wird als Kriminelle hingestellt, auch vor den Augen und Ohren zufällig anwesender anderer Patienten. Ungefragt nehmen sie ihr das Handy und den Laptop weg. Darauf wollen sie nach der Information suchen, woher Joanna die "Abtreibungspille" hatte. Denn eine selbst vorgenommene pharmakologische Abtreibung ist in Polen zwar nicht strafbar – die Beihilfe und die Anstiftung dazu allerdings schon.

Das Vorgehen der Polizei ist widerrechtlich – das stellte auf eine Beschwerde Joannas hin im Nachhinein ein Gericht fest. Da keine Straftat vorlag, gab es keinen Grund, ihre persönlichen Datenträger zu beschlagnahmen, so die Richter. Die Frauenrechtlerin und Juristin Kamila Ferenc ergänzt: Selbst bei einem begründeten Tatverdacht hätte man die Sache anders lösen können – mit einer Vernehmung im Nachhinein, ohne erniedrigende Szenen in der Notaufnahme.

Die Beamten wollen gegenüber der Regierung ihren Eifer unter Beweis stellen, wollen zeigen, dass sie Abtreibungen verfolgen und verhindern.

Kamila Ferenc, Juristin

Joanna will nicht lockerlassen. Sie geht in die Offensive – berichtet von ihren Erlebnissen in den Medien, tritt bei Protesten gegen das rigorose Abtreibungsrecht auf und will die übergriffigen Beamten verklagen, sobald die Polizei die Unterlagen zum Fall rausrückt. Auch ihrer Ärztin drohen Konsequenzen – wegen Verletzung der Schweigepflicht.

Joanna und Ola sind keine Einzelfälle. Nach ihren Enthüllungen meldeten sich weitere Frauen, die wegen eines Abtreibungsverdachts ins Visier des Staatsapparats gelangt waren. Hinzu kommen Fälle von Frauen, die an einer Sepsis gestorben sind, weil die behandelnden Ärzte einen abgestorbenen Fötus nicht abtreiben wollten.

Schwangere "flüchten" nach Tschechien

Die "Abtreibungspsychose" des Staatsapparats hat in der Grenzregion zu Tschechien eine unerwartete Folge: Immer mehr schwangere Frauen "flüchten" aus dem polnischen Gesundheitssystem und suchen sich einen Arzt im Nachbarland, berichtet die Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Sie fürchten, im Fall einer Fehlgeburt oder anderer Komplikationen ähnlich wie Ola und Joanna behandelt zu werden.

Ultraschalluntersuchung während der Schwangerschaft
Immer mehr Schwangere aus der Grenzregion lassen sich lieber im Nachbarland Tschechien medizinisch versorgen (Symbolbild). Bildrechte: IMAGO / Panthermedia

Ihre Sorgen nährt auch die obligatorische Erfassung von Schwangerschaften in Polen – seit Oktober 2022 sind polnische Ärzte verpflichtet, die Schwangerschaft in der elektronischen Patientenakte einzutragen. Die Regierung erklärt dies mit dem Wohl der Schwangeren – mit der Registrierung solle beispielsweise verhindert werden, dass sie von einem anderen Arzt Medikamente verschrieben bekommen, die den Fötus schädigen.

Doch angesichts der Atmosphäre im Land fürchten viele Frauen, die Informationen könnten in Wahrheit der Kontrolle und gegebenenfalls der Strafverfolgung dienen. So auch Patrycja aus Bielsko-Biała, die mit "Gazeta Wyborcza" sprach. "Jeder weiß doch, wie sich die Regierenden gegenüber Schwangeren verhalten. Ich habe mehr als genug Horrorstorys von Frauen gelesen, die nach einer Fehlgeburt drangsaliert und wie Mörderinnen behandelt wurden. Und ich hatte Angst vor unseren Ärzten."

Die guten Rezensionen anderer Polinnen, die ihre Schwangerschaft in Tschechien betreuen ließen, hätten sie in dem Entschluss bekräftigt, sich eine Klinik im Nachbarland zu suchen. Und sie ist voll des Lobes. Die tschechischen Frauenärzte nähmen sich mehr Zeit. Kein einziges Mal habe sie lange warten müssen und immer habe sie sich nach dem Arzttermin ausreichend informiert gefühlt. Obendrein habe das weniger gekostet als eine vergleichbare Betreuung als Privatpatientin in Polen.

Die Klinik Pronatal im tschechischen Ostrava bestätigt den Trend – und bringt ihn mit der obligatorischen Schwangerschaftserfassung in Polen in Verbindung. Seit ihrem Inkrafttreten im Oktober 2022 habe man Monat für Monat einige Dutzend neue Patientinnen aus Polen aufgenommen.

Opposition will Abtreibungen legalisieren

Die "Flucht" nach Tschechien kommt aber nicht für alle Polinnen in Frage, allein schon wegen der Entfernung. Doch im Herbst wird in Polen neu gewählt. Für viele könnte das Thema "Abtreibung" dabei eine zentrale Rolle spielen. Das weiß auch der Anführer der größten Oppositionskraft Bürgerplattform, Donald Tusk: Am ersten Tag nach der gewonnenen Wahl werde seine Partei einen Gesetzentwurf im Parlament einbringen, der den Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche legalisiert, kündigte er schon vor Monaten an. Gewählt wird am 15. Oktober 2023.

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