Analyse Der aufwendige Kampf gegen die Organisierte Kriminalität in Thüringen

06. Oktober 2022, 12:57 Uhr

Thüringen ist Schauplatz hochkomplexer, krimineller Geschäfte. Der Freistaat ist auch ein Ort, an dem sich unterschiedlichste Gruppen aus der Organisierten Kriminalität eingerichtet haben, nicht zuletzt die Mafia. Die Flucht eines Armeniers, der von Europol und Landeskriminalamt gesucht wird, hat einmal mehr vor Augen geführt, wie komplex und aufwendig die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität auch in Thüringen ist. Eine Analyse.

David Martirosian befindet sich in zweifelhafter Gesellschaft. Mehr als 90 Männer und Frauen stehen auf der "Most Wanted List" von Europol. Mörder, Mafiosi, Drogenhändler oder Betrüger. Sie alle werden mit internationalem Haftbefehl gesucht. Dass Martirosian auf dieser Liste steht, hat er zu einem Teil dem Amtsgericht Gera zu verdanken. Denn das entließ ihn und seinen mutmaßlichen Komplizen Artak W. Ende 2018 aus der Untersuchungshaft, obwohl die beiden im Verdacht stehen, mit 40 Kilogramm Drogen gehandelt zu haben.

Doch das Gericht sah bei beiden keine Fluchtgefahr. Martirosian revanchierte sich und verschwand Anfang 2020 - drei Monate vor Beginn seines Prozesses um den kiloschweren Drogenhandel.

Armenische Mafia in Thüringen aktiv

Der Fall Martirosian zeigt, wie komplex und international die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (kurz: OK) in Thüringen ist. Denn die Ermittler gehen davon aus, dass er im Ausland untergetaucht ist, von dort seine Drogengeschäfte weiter betreiben könnte und immer noch Kontakte nach Thüringen hält. Das dürfte vor allem daran liegen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft ihn zu einer Personengruppe zählen, die im Verdacht steht, der armenischen Mafia anzugehören.

Seit über zehn Jahren ermittelt das Thüringer LKA immer wieder gegen diese Gruppierung. Dabei gab es zwischen 2014 und 2018 sogar eine bundesweite Operation mit anderen Landeskriminalämtern, dem Bundeskriminalamt und dem Bundesnachrichtendienst. Im Fokus: Strukturen der armenischen Mafia in ganz Deutschland.

Der Gruppierung in Thüringen kam dabei eine zentrale Rolle zu. Denn sie war bestens national und international vernetzt. Das bedeutete für die Spezialisten des Dezernates 62, das im LKA für die OK-Bekämpfung zuständig ist, Schritt zu halten. Inzwischen füllen die Erkenntnisse über die armenische Mafia in Thüringen Zehntausende Seiten an Akten, dabei besonderes über ihre Aktivitäten im Drogenhandel, in dem sie mit anderen Gruppen immer wieder verstrickt ist.

Drogentransporte nach Thüringen

Inzwischen wird in Thüringen mit nahezu jeder Droge gehandelt und das in immer größerem Umfang. Die Mengen an harten Drogen wie Crystal Meth bewegen sich seit Jahren konstant im Kilobereich. Thüringen ist inzwischen ein Bundesland durch das und in das Drogen von den unterschiedlichsten Gruppierungen transportiert werden. Neben Mitgliedern der armenischen Mafia sind es albanische oder tschetschenische Gruppen, die den Drogenhandel hier organisieren. Und es gibt ein bundesweit aktuell einmaliges Phänomen: Neonazis im Drogenhandel.

Neonazis handeln mit Drogen

Im Februar 2021 schlugen die Ermittler der Sonderkommission "Gewinne" das erste Mal zu. Im Juni 2022 das zweite Mal. Inzwischen sitzen zwei Dutzend Beschuldigte in Haft. Die "Turonen" und ihre Unterstützer der "Garde 21" sind beinharte Neonazis, die seit Jahren in Thüringen im Drogenhandel aktiv sind. Dabei handelt es sich um ein Dealerkartell, das im großen Stil Crystal Meth oder Kokain verkauft haben soll. Die Ermittler sind bei den rechtsextremen Drogenhändlern auch auf ein komplexes System der Geldwäsche gestoßen, also der Investition krimineller Gelder in die legale Wirtschaft, um diese reinzuwaschen.

Zu den beschlagnahmten Gegenständen gehörten auch scharfe Schusswaffen. 30 min
Zu den beschlagnahmten Gegenständen gehörten auch scharfe Schusswaffen. Bildrechte: MDR/Axel Hemmerling

Prozess gegen Turonen ausgesetzt

Doch auch wie bei David Martirosian wurde dabei deutlich, dass sich besonders Gerichte in Thüringen mit der Abgebrühtheit und dem hochkriminellen Verhalten von Gangstern schwer tun. Als im laufenden "Turonen"-Prozess einer der Hauptangeklagten krank wurde, machten Staatsanwaltschaft und Verteidiger den Vorschlag, dieses Verfahren vom Prozess abzutrennen, damit gegen die anderen zügig weiterverhandelt werden konnte.

Doch sie bissen beim Landgericht Erfurt auf Granit. Somit platzte das Verfahren und es drohte wieder einmal, dass die Angeklagten aus der Untersuchungshaft entlassen werden könnten. Das wurde nur durch einen Beschluss des Oberlandesgerichts Jena verhindert. Im Oktober wird der Prozess mit dem erneuten Verlesen der Anklage neu aufgerollt - inklusive Zehntausenden Euro an laufenden Verfahrenskosten und Raummiete für einen wochenlang ungenutzten extra Saal, zu Lasten des Thüringer Steuerzahlers.

Kryptohandys auch in Thüringen

Das "Turonen"-Verfahren lenkt die Aufmerksamkeit aber auch auf eine wahre Revolution in der weltweiten OK-Bekämpfung, die auch Thüringen betrifft. Seit 2020 ist es Experten gelungen, mehrere international agierende Anbieter von Kryptohandys lahmzulegen. Dieses "WhatsApp für Gangster", als ein eins-zu-eins verschlüsselter Messengerdienst, hat komplexen Verbrecherkartellen ein ungestörtes Agieren ermöglicht, fern von irgendwelchen Abhöroperationen der Polizei. Doch mit dem Knacken der Dienste ist es den Fahndern gelungen, in die kriminellen Geschäfte hineinzuschauen. Auch in Thüringen hat das zu Erfolgen geführt.

Allein dem Kryptodienstleister "Sky ECC" konnten 29 Personen aus Thüringen zugeordnet werden - 23 Ermittlungsverfahren wurden auf dieser Grundlage im vergangenen Jahr eröffnet. Den Anbieter "Anom", hinter dem verdeckt das US-amerikanische FBI stand, nutzten offenbar 34 Thüringer. Aufgrund deren Kommunikation wurden 2021 bis jetzt 26 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Und noch sind nicht alle Daten ausgewertet, obwohl sich darum eine eigene Sonderkommission "Licht" im LKA kümmert.

Einblick in hochkriminelle Geschäfte

Die geknackten und gehackten Daten sind Segen und Fluch zugleich. Segen, weil sie Einblicke in die Geschäfte geben und beispielsweise Drogendealer wie die Brüder Martin und Christian U. in Thüringen festgenommen werden konnten. Mit ihrer Bande sollen die beiden für den Handel und Transport von bis zu zehn Kilo Crystal oder Kokain pro Woche in den Freistaat verantwortlich gewesen sein - bis sie 2021 durch die Infos aus den geknackten Kryptohandys aufflogen. Der Fluch ist: Für die Auswertung der Zehntausenden von Daten benötigt die Thüringer Polizei viel Personal und dazu eines, das entsprechend qualifiziert ist und Erfahrung hat.

Prozess um Kryptohandys geplatzt

Das Verfahren um die Brüder U. zeigt aber ähnlich wie bei David Martirosian oder den "Turonen", wie wenig tiefgehendes und komplexes Verständnis Thüringer Gerichte und die Justiz bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität haben. Als die zuständige Richterin für das Verfahren ihre eigene Justizverwaltung mehrfach darauf aufmerksam machte, dass sie einen geeigneten großen Raum unter Corona-Auflagen brauche, passierte monatelang nichts.

Das Wirrwarr im Verwaltungsdschungel führte schließlich dazu, dass die Richterin den Prozess nicht terminieren konnte, weil sie den Raum nicht hatte. Das bedeutete in der Folge: Das Verfahren platzte. Es ist nur dem Umstand einer anderen Haftstrafe zu verdanken, dass die Brüder U. nicht aus dem Gefängnis marschieren konnten. Einer ihrer mutmaßlichen Mittäter ist seit Anfang des Jahres auf freiem Fuß, weil die Justizverwaltung die komplexe Herausforderung einer geeigneten Raumanmietung nicht hinbekommen hatte.

Monatelanges Warten auf Wirkstoffgutachten

Doch die Bekämpfung von Organisierter Kriminalität ist nicht nur ein Problem der Personalressourcen, sondern auch der technischen Möglichkeiten. So klagen Ermittler und Staatsanwälte in Thüringen, dass es beim Thema Drogen zu wenige Laborkapazitäten gibt. Immer wieder ist zu hören, dass auf Wirkstoffgutachten Monate gewartet werden muss und damit die Staatsanwaltschaft bei Haftprüfungen immer wieder unter Druck kommt. Ist das Gutachten nicht rechtzeitig da und kann dadurch die Schwere des Drogenhandels nicht bewiesen werden, droht die Untersuchungshaft eines Drogendealers zu platzen.

Italienische Mafia in Thüringen aktiv

Thüringen ist im Kontext Organisierter Kriminalität keine Insel. Der Freistaat ist sowohl ein Schauplatz hochkomplexer, krimineller Geschäfte. Er ist aber auch ein Ort, an dem sich die unterschiedlichsten OK-Gruppen eingerichtet haben und von hier aus ihre Geschäfte koordinieren. So besteht seit über 20 Jahren der Verdacht, dass die italienischen Mafia-Organisation 'Ndrangheta von Thüringen aus die Geldwäsche organisiert.

Ein Verdacht, der nach so einer langen Zeit die Politik erreicht hat. Der MDR und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hatten im vergangenen Jahr ein über 20 Jahre lang geheim gehaltenes Mafia-Verfahren mit dem Decknamen "Fido" öffentlich gemacht. Bei diesen wurden offenbar unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen 2002 alle verdeckten Aktionen gegen die 'Ndrangheta in Erfurt eingestellt. Ein Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag will das klären und das agieren der italienischen Mafia in Thüringen beleuchten. Das Fido-Verfahren wurde 2006 offiziell von der Staatsanwaltschaft Gera eingestellt.

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Zwei Jahre lang spürten Ludwig Kendzia und Axel Hemmerling der 'Ndrangheta nach; Sie trafen Ermittler und reisten nach Italien. Wie man gegen die Mafia recherchiert, erzählen sie im Interview mit Andreas Kehrer.

Das Erste Mo 22.02.2021 22:50Uhr 38:44 min

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Organisierte Kriminalität ist demokratiefeindlich

Dabei dürfte auch immer wieder deutlich werden, dass Organisierte Kriminalität demokratiefeindlich ist. Denn wer mit kriminellen Geldern aus schier unerschöpflichen Quellen den legalen Markt fluten und untergraben kann, gewinnt Macht und Einfluss. Und genau das ist ein Ziel und Merkmal Organisierter Kriminalität. Die Grenzen zwischen legalen und kriminellen Handlungen verschwimmen immer mehr.

In Italien kommt es nicht selten vor, dass ein Dorf oder eine Stadt unter die Kontrolle der Regierung gestellt werden muss, weil Teile der kommunalen Politik zur Mafia gehören. Der italienische Dichter Corrado Alvaro, der aus der kalabrischen Mafia-Hochburg San Luca stammt, beschrieb diesen Punkt der Demokratie- und Gesellschaftsfeindlichkeit von Organisierter Kriminalität so: "Die schwärzeste Verzweiflung, die eine Gesellschaft befallen kann, rührt von der Befürchtung, ein ehrbares Leben könne zwecklos sein."

Veranstaltung zum Thema

Zum Thema Organisierte Kriminalität findet am Donnerstag, dem 6. Oktober 2022 um 19 Uhr eine Diskussionsrunde im Bürgerhaus Eisenach statt. Der Titel: "Organisierte Kriminalität - Herausforderung für Staat und Gesellschaft mit besonderem Blick auf Thüringen". Neben Ludwig Kendzia, einem der Autoren dieses Textes, werden auch erwartet: Raymond Walk, Innenpolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Peter Hehne, Leitender Kriminaldirektor beim Thüringer LKA, und Steven Bickel, Referent für Innere Sicherheit bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

MDR (dst)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | THÜRINGEN JOURNAL | 07. Oktober 2022 | 19:00 Uhr

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