Eine Frau schaut in die Kamera.
Geschäftsführerin Ulrike Fourestier sorgt sich um die Finanzierung des "Storchennests" Radeberg. Bildrechte: Andreas Roth

Inklusion Geldnot: Taubblindenheim in Radeberg hofft auf Unterstützung

05. Mai 2024, 11:30 Uhr

Nichts hören, nichts sehen - taubblinde Menschen können nur tastend, riechend und schmeckend Kontakt zur Welt aufnehmen. Im Radeberger "Storchennest" finden sie Arbeit und Begleitung. Doch nun braucht der evangelische Taubblindendienst selbst Unterstützung.

Bahn für Bahn führen Lutz Herolds Hände das Flechtrohr. Sie verknüpfen die Streifen, bis der antike Stuhl aussieht wie neu. Alles sitzt, alles passt. Dabei kann Lutz Herold nichts davon sehen. Hören kann er auch nicht.

"Man muss mit der Hand fühlen lernen", sagt er. "Die Hand ersetzt ganz vieles." So auch das Sprechen. Einzelne Worte formt er mühsam mit dem Mund, seine Sätze aber tippt er in die geöffnete Hand von Heidi Haase. Die Ergotherapeutin begleitet den 61-Jährigen in der Werkstatt des Radeberger "Storchennests", des Taubblinden-Dienstes der Evangelischen Kirche in Deutschland. Lutz Herold ist hier für sein Geschick bekannt.

Ein Mann in Arbeitsschürze hat seine Hand in die Hände einer Frau gelegt.
Lutz Herold (links) arbeitet im "Storchennest" an der Restaurierung eines Stuhls. Bildrechte: Andreas Roth

Usher-Syndrom führte zur Erblindung

"Schlosser", sagt er, diesen Beruf hat der Bornaer einst gelernt. Dann elf Jahre als Dreher gearbeitet. Dann verließ ihn sein Augenlicht. Taub wurde Lutz Herold schon geboren. Usher-Syndrom nennt sich diese genetische Erkrankung.

Lutz Herold hat ein verschmitztes Lächeln. Er lacht viel. Wenn seine Frau Elke in die gemeinsame Wohnung in Radeberg kommt, dann tauschen sie sich über die Hände über den Tag aus. Oder planen, was es zu essen gibt. Lutz Herold liebt das Kochen in der eigenen Küche. So wie das Nähen. Oder das Basteln in der eigenen Werkstatt. Stolz zeigt er das selbst gezimmerte Regal. Maßarbeit, exakt geplant und umgesetzt.

Tausende Menschen sind betroffen

Schätzungsweise 8.000 bis 12.000 Menschen bundesweit können weder hören noch sehen, eine genaue Statistik gibt es nicht. Erst seit 2016 ist Taubblindheit als eigene Behinderung anerkannt. Etwa 100 Menschen in Sachsen haben heute eine Schwerbehindertenausweis mit der Eintragung "taubblind" - doch betroffen sind nach Schätzungen von Fachleuten wesentlich mehr. 

"Viele Taubblinde sagen, sie leben wie in einem Gefängnis - ich sage: Wie in einer Gruft. Man ist eingesperrt: Nur noch fühlen, schmecken, riechen." Ullrich Schult muss es wissen. Auch seine Augen sehen fast nichts mehr. Von seinem Gehör bleibt ihm noch ein winziger Rest. Gerade so viel, dass er sich mit Hilfe starker Hörgeräte unterhalten kann.

Ein Mann mit einem Blindenabzeichen sitz in einem Stuhl.
Ullrich Schult versucht das Beste aus seiner Hör- und Sehbehinderung zu machen - sein Glaube hilft ihm dabei. Bildrechte: Andreas Roth

So kann er von seiner Zeit als Feinmechaniker im Dresdner Schreibmaschinenwerk und später als Telefonist im Innenministerium erzählen. Jetzt ist er Rentner. In Radeberg hat er eine Wohnung gefunden und Unterstützung, um trotz seiner Behinderung selbstständig leben zu können.

Hier im "Storchennest" hat er zum Glauben gefunden - auch wenn manche Fragen offen bleiben. "Der liebe Gott hat die Welt eingerichtet und leider auch manches vergessen", sagt Ullrich Schult. "Ich versuche, aus der Hör- und Sehbehinderung das Beste zu machen."

Taubblindendienst braucht selbst Hilfe

Seit über 30 Jahren sitzt in der alten Villa "Storchennest" am Radeberger Stadtrand der Taubblindendienst der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gegründet schon zu DDR-Zeiten von der blinden Pfarrerin Ruth Zacharias, begleitet und berät er Betroffene wie Angehörige. Über ein Drittel der Kosten dafür sind Spenden, sagt die Pfarrerin und heutige Geschäftsführerin Ulrike Fourestier. Und die seien jetzt dringender denn je. Denn die Sanierung des Haupthauses und die dadurch erzwungene Pause im Gästebetrieb reiße ein Loch in die Kasse des diakonischen Vereins.

Auch der Garten des "Storchennests" wäre ohne Spenden undenkbar. Es ist ein besonderer Garten. Die Pflanzen hier wurden nach der Harmonie ihrer Düfte ausgewählt - und sie wachsen in Hochbeeten, gut erreichbar auch ohne sehen zu können. Andreas Herold tastet sich am silbern glänzenden Handlauf entlang, beugt sich hinab zu Goldlack und den gelben Stiefmütterchen und atmet tief ein.

Zwei Personen schauen in die Kamera.
Gärtnermeister Marcel Soblik und Andreas Herold (rechts) sind Kollegen im Kräutergarten des Radeberger Taubblindendienstes. Bildrechte: Andreas Roth

Ein Garten zum Riechen

"Er sagt: Es macht ihm Freude, dass er es so eben noch mitbekommen kann", übersetzt Marcel Soblik. Der Gärtnermeister arbeitet mit Andreas Herold im Kräutergarten des "Storchennests". Sie sind Kollegen.

Eine Perosn riecht an Blumen.
Andreas Herold kann den Frühling im Duftgarten des "Storchennests" riechen. Bildrechte: Andreas Roth

Andreas Herold holt tastend ein kleines Heft aus der Innentasche seiner Jacke, das er nicht mehr lesen kann. In ihm steht sein Lebenslauf: Der 58-Jährige ist gelernter Gärtner, taub geboren wie sein großer Bruder Lutz, als Erwachsener verließ auch ihn sein Augenlicht.

Doch seine Hände haben das Gespür für das Lebendige nicht verloren. Geübt tasten sie nach den Kräutern im Küchenbeet, hegen und pflegen sie. Und wenn er von großen Kürbissen oder seiner Sorge um die im April-Frost erfrorenen Erdbeeren erzählt, dann spiegelt sich in seinem Gesicht die Freude am Leben.

MDR (kav)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | SACHSENSPIEGEL | 26. April 2024 | 20:28 Uhr

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