Zwei Männer sitzen auf einer Bank.
Eric Thomas, Schulsozialarbeiter an einer Oberschule, und Grundschulerzieher Enrico Edel (v.li.) zeigen in Kursen, wie man in Konfliktsituationen reagiert und Gewalt vorbeugt. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Interview Anti-Gewalt-Trainer aus Dresden: "Es gibt keine gewaltfreie Schule"

01. Oktober 2023, 08:00 Uhr

Eric Thomas, Schulsozialarbeiter einer Oberschule, und Enrico Edel, Horterzieher einer Grundschule, verfolgen dasselbe Ziel: Sie wollen, dass weniger Gewalt und Aggression an Schulen vorkommt. Dafür bieten die beiden in Klassen Deeskalationstrainings an. Wie muss man sich das vorstellen? MDR SACHSEN hat mit den beiden Anti-Gewalt-Trainern gesprochen.

Herr Thomas und Herr Edel, Sie bieten Anti-Gewalt-Kurse an Schulen an. Wie kam es dazu?

Eric Thomas: Im Laufe meiner Berufstätigkeit hat es immer wieder Konflikte gegeben, bei denen ich dachte: 'Okay, hier richtig darauf zu reagieren, wäre sinnvoll'. Bei einigen Auseinandersetzungen unter den Heranwachsenden habe ich mich überrannt und ohnmächtig gefühlt. Ich wollte mich weiterbilden, um sowohl in diesen Situationen agieren zu können als auch nach Möglichkeiten zu suchen, bereits präventiv zu arbeiten.

Enrico Edel: In der Grundschule, in der ich arbeite, gab es Kinder, welche aggressiv und gewalttätig gegenüber anderen Kindern und pädagogischen Fachkräften waren. Ich wollte eine Art Handwerkskoffer, wie man in diesen Situationen die Kinder und Pädagogen schützen kann.

Woher haben Sie sich diesen Handwerkskoffer geholt?

Eric Thomas: Wir haben eine Anti-Gewalt-Trainer-Ausbildung nach dem Magdeburger Modell absolviert. Die wurde von Trainern mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit Straftätern durchgeführt. Das Programm ging über neun Monate. Wir haben das in einzelnen Bausteinen adaptiert und für unsere Arbeitswelt ausgebaut.

Sie haben eine Ausbildung, die eigentlich auf die Arbeit mit Straftätern abzielt, auf das Schulumfeld angepasst. Das funktioniert?

Eric Thomas: Ja. Einzelne Felder gleichen sich auf jeden Fall. Da gibt es dieselben Mechanismen, die im Menschen ablaufen.

Enrico Edel: Unser Ziel ist es, präventiv zu arbeiten, damit es erst gar nicht dazu kommt, dass die Kinder und Jugendlichen später straffällig werden.

Und dieses Konzept haben Sie?

Enrico Edel: Genau. Ich biete es in der Grundschule an und habe es in verschiedene Kurse eingeteilt. Dabei geht es um Wahrnehmung, Nähe und Distanz, Stopp-Regelung, Emotionen und Gefühle, Körpersprache, die Frage, was Gewalt ist, und welche Möglichkeiten es gibt, Aggressionen herauszulassen. Ich habe einen Kurs für Kinder entwickelt und einen für pädagogische Fachkräfte. Zuerst waren wir nur in unseren Einrichtungen aktiv. Jetzt entwickelt sich das breiter.

Ein Kind hält sich ein Papier vor die Augen und schreit
Kinder dürfen wütend sein. Die Anti-Gewalt-Trainer zeigen auch, welche Möglichkeiten es gibt, Dampf abzulassen. (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO / Westend61

Um welche Fragen geht es in den Kursen?

Eric Thomas: Es geht darum, wie man in brenzligen Situationen reagiert. Welche Signale mir in solchen Momenten gesendet werden. Wie man dem vielleicht so vorbeugen kann, dass man gar nicht in eine eskalierende Situation hinein gerät. Wichtige Punkte sind hier die Körpersprache, das Nähe-Distanz-Verhalten und die eigene Wirkung auf andere. Das wird in den Kursen angesprochen und in einem sicheren Rahmen durchgespielt, damit Skills erlernt werden, um in Konfliktsituationen nicht überfahren zu werden.

Denn Gewalt passiert zu einem großen Teil explosionsartig, welche zu einem Schockmoment führen kann. Wenn ich dann keinen Plan A, keinen Plan B und Plan C habe, bin ich der Situation ausgeliefert.

Da gibt es aber keine Universallösung?

Eric Thomas: Menschen sind in derartigen Situationen evolutionsbedingt mit verschiedenen Modi ausgestattet. Entweder ist es das Erstarren, die Flucht oder der Angriff. Dies muss jeder Mensch für sich erfahren, welcher Typ ihm innewohnt und wie auf Bedrohung oder Gewalt reagiert werden kann, um im Endeffekt nicht hilflos zu sein.

Was raten Sie einem Kind, das am Schuleingang mit einer pöbelnden Gruppe konfrontiert wird?

Eric Thomas: Sobald die Gruppe größer ist, vielleicht noch Gegenstände in der Hand gehalten werden, sage ich meinen Schülerinnen und Schülern, dann nimm deine Beine in die Hand und komme halt fünf Minuten später, um dich nicht der Gefahr auszusetzen.

Oder das Kind sucht sich Freunde, mit denen es den Weg gemeinsam geht. Es könnte auch eine Lehrkraft an dem Punkt positioniert werden, um Präsenz herzustellen. Denn Öffentlichkeit baut Druck auf Aggressoren und potenzielle Täter auf.

Ist Gewalt an Schulen immer ein Thema?

Eric Thomas: Es gibt meines Erachtens keine gewaltfreien Schulen, so wie es keine gewaltfreie Gesellschaft gibt. Schule muss man als großes Spannungsfeld betrachten, wo hunderte Schüler auf engem Raum zusammenleben. Allein durch den Eingangsbereich schraubt sich eine Masse an Menschen. Da wird gerangelt, wird ein Bein gestellt.

Nach außen hin sind das Kleinigkeiten. Aber schon das kann sich potenzieren und dazu führen, dass bestimmte Schüler immer kleiner werden und nicht mehr gerne zur Schule gehen.

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Ein Schüler drückt auf dem Schulhof des Gymnasiums in Leichlingen einen anderen zu Boden (gestelltes Illustrationsfoto).
Ein Schüler drückt auf dem Schulhof einen anderen zu Boden (Symbolbild). Bildrechte: picture alliance/dpa | Oliver Berg

Was sollten Pädagogen beachten?

Enrico Edel: Wichtig ist auf jeden Fall die Beziehungsarbeit: Dass ein Kind zu einer Lehrkraft gehen kann und ihr melden kann, wenn es ihm schlecht geht oder Gewaltsituationen passiert sind. Sie muss es dann stärken, in den Situationen unterstützen und ernst nehmen.

Eric Thomas: Ja, Gewalt muss angesprochen werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es bringt nichts, sich abzuducken und zu hoffen, dass es irgendwann schon wieder aufhört. Wenn diese Menschen jemanden zum Schikanieren gefunden haben, dann gibt es denen etwas. Es ist ein starkes Gefühl, sich über jemanden zu stellen. Das darf auch seitens der Lehrkräfte nicht bagatellisiert, sondern muss thematisiert werden.

Wie gehen Sie das in Ihren Kursen an?

Enrico Edel: In unseren Workshops hinterfragen wir zum Beispiel mit Rollenspielen bestimmte Verhaltensmuster. Wir stellen mit Lehrkräften bestimmte Situationen nach und schauen mit ihnen, wie man aus den Situationen herauskommen kann, ohne übergriffig zu werden.

Eric Thomas: Zum Beispiel, indem man die Gruppe rausnimmt und so dem Einzelnen keinen Angriffspunkt mehr gibt. Wenn man sieht, es bringt nichts auf die aggressive Person einzugehen, weil sich diese im Tunnel befindet und man hier keine Chance hat, zu ihr durchzudringen. Dann muss man eben zuerst die anderen schützen. Später folgt dann das Zweiergespräch.

Im besten Fall sieht man es dem Kind vorher schon an, dass es nervös wird, Fäuste ballt. Manchmal sieht man es auch am Blick. Damit man da schon agiert, bevor die Situation eskaliert.

Mann mit geballter Faust.
Körpersprache zeigt, wenn es im Inneren eines Menschen bereits brodelt. (Symbolbild) Bildrechte: Colourbox.de

Welche Strategien legen Sie Schulen ans Herz?

Eric Thomas: Unser Ziel ist, dass die ganze Klasse sensibilisiert und darüber informiert wird, was Gewalt und Aggressionen sind. Und dass es auch kein Petzen ist, wenn Gewalt gemeldet wird.

Enrico Edel: Dieses Spannungsfeld der Gewalt kann zum Beispiel durch Präsenz der Lehrkraft gebrochen werden. Sie muss ja keinen Frontalunterricht leisten. Sie kann sich im Klassenraum frei bewegen und sich somit auch zwischen Sender und Empfänger begeben und quasi eine Barriere entstehen lassen. Das wäre ein einfaches Mittel, um auf Störungen zu reagieren und sie im Entstehen einzudämmen.

Was können Eltern tun, wenn ihr Kind Gewalt in der Schule erfährt?

Eric Thomas: Am Anfang wäre es wichtig, dass die Eltern überhaupt davon wissen. Meistens ist es nicht der Fall, sondern die von Gewalt Betroffenen versuchen, es so lange wie möglich unter Verschluss zu halten. Genau darum muss das Netzwerk stimmen - Eltern und Pädagogen müssen zusammenarbeiten. Dann gibt es verschiedene Mittel, das Kind zu stärken, vielleicht auch mit einem Selbstverteidigungskurs.

Sie haben auch die Nachtschlichter trainiert, die in der Dresdner Neustadt unterwegs sind. Was machen die?

Enrico Edel: Das sind Konfliktmanager, die an der Ecke Louisenstraße/Rothenburger Straße unterwegs sind. Damit ging es los. Mittlerweile haben sie ihr Gebiet erweitert und sind überall da in der Neustadt, wo sich Menschenmassen sammeln und Konfliktpotenzial im Raum steht. Die Nachtschlichter agieren vor dem Ordnungsamt und vor der Polizei und sollen sozusagen auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Das Assi-Eck im Szeneviertel Dresden-Neustadt
Nachdem an Wochenenden am sogenannten Assi-Eck in der Dresdner Neustadt Hunderte die Straße blockierten, kam die Idee der Nachtschlichter auf. (Archivbild) Bildrechte: imago images/Ray van Zeschau

Wie haben Sie die Nachtschlichter fit gemacht?

Eric Thomas: Es ging darum, die Nachtschlichter dahingehend zu schulen, dass sie nicht fahrlässig in eine Gruppe hineinstoßen - um eben eskalierende Situation zu vermeiden. Wir haben dafür ein Seminar entwickelt.

Enrico Edel: Wir haben ihnen Lösungstechniken beigebracht, wie man aus einer brenzligen Situation rauskommen kann und wie man sie zeitig erkennt. Außerdem haben wir Ganganalysen durchgeführt, also wie ein Mensch auf einen anderen Menschen zugeht. Damit kann man erkennen, ob er einen aggressiven Gang hat. Und wir haben einzelne Vorfälle, die so schon passiert sind, nachgespielt und geschaut, wie sie in diesen sicherer agieren können.

Welche Tipps geben Sie Jugendlichen, um sich vor Jugendkriminalität zu schützen?

Enrico Edel: Die Situation sehen und verstehen, ist das Wichtige. Es hat auch nicht mit Angst oder Flucht zu tun, wenn ich die Straßenseite wechsle, um einer möglichen Konfrontation aus dem Weg zu gehen.

Eric Thomas: Dann ist Körpersprache wichtig - ein aufrechter Gang, den Blick nicht nach unten gesenkt. Viele Jugendliche laufen auf ihre Smartphones schauend umher und bekommen so kaum etwas von ihrer Umwelt mit.

Ich sollte aber meine Umgebung wahrnehmen, um den nötigen Abstand bewahren zu können. Wenn eine Gruppe von fünf Leuten sich mich aussucht, dann sind zehn Meter Abstand - und ich realisiere das - schon gut, um zum Beispiel die Situation besser einschätzen zu können, die nächsten Schritte zu planen, die Flucht zu ergreifen oder nach Unterstützung zu schauen.

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MDR (ama)

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