Ungarn Budapests neuer Bürgermeister soll "System Orban" beenden

09. November 2019, 05:00 Uhr

Bei den Kommunalwahlen in Ungarn hat die Opposition überraschend viele Städte gewonnen und will nun die Vorherrschaft des Premierministers brechen. Eine Schlüsselrolle soll dabei Budapests neuer Bürgermeister spielen. Kann er das?

Grinsend rollt Gergely Karácsony vor seinen Mitarbeitern das gerade gelieferte Poster aus. Darauf sieht man das aktuelle Cover einer oppositionellen Wochenzeitung: Karácsony auf einem Fahrrad, wie er vor einem Vollmond durch die Nacht fliegt; eine Hommage an den Filmklassiker "E.T. – Der Außerirdische"

Und ein bisschen außerirdisch wirken er und sein Stab nach erst drei Wochen im Amt immer noch. "Die Stimmung ist noch wie in einem Studentenheim. Die meisten Kollegen haben noch kein eigenes Büro. Deswegen sitzen sie in verschiedenen Konferenzzimmern, inmitten von Laptops und Taschen", sagt der 44-Jährige.

Überraschungserfolg der Opposition

Die meisten Mitarbeiter in Karácsonys Stab sind Politik-Neulinge, zumindest wenn es um exekutive Ämter geht. Denn angetreten war der ehemalige Politikwissenschaftler bei den Kommunalwahlen am 13. Oktober 2019 als Kandidat eines breiten Oppositionsbündnisses aus sechs Parteien: Von den Sozialdemokraten bis zur als rechtsradikal geltenden Jobbikpartei. Karácsony selbst gehört der links-grün-liberalen Kleinstpartei "Párbeszéd" ("Dialog") an.

Poster zeigt Mann auf Fahrrad vor Vollmond entlang fliegen
Koketterie mit dem Außenseiterimage: Budapests neuer Bürgermeister als außerirdischer auf dem Plakat eines Zeitschriftencovers. Dieses hängt nun im Rathaus. Bildrechte: Alexander Hertel

Die einzige Gemeinsamkeit der neuen Bündnispartner: Sie wollten die Vormachtstellung der Regierungspartei Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orban brechen, die Ungarn seit neun Jahren dominiert. "Das größte Problem mit dem 'Orbanismus' ist, dass die Regierung und vor allem der Ministerpräsident glaubt, dass er alles besser weiß. Ich vertrete eine ganz andere Philosophie von Politik", sagt Karácsony.

Grüne Lokalpolitik und ein Ende des Geklüngels

Dazu gehöre eine konkrete Kommunalpolitik. So versprach Karácsony im Wahlkampf mehr Parks und Kitas, einen besseren öffentlichen Nahverkehr und Radwege, sozialen Wohnungsbau und ein Ende der Stigmatisierung von Obdachlosen. "Ich möchte eine grüne und solidarische Stadt schaffen und dieses Programm wurde auch gewählt", erklärt Karácsony.

Eine ähnlich klar umrissene Agenda hätte der bisherige Bürgermeister István Tarlós, der von Fidesz unterstützt wurde, auch nach neun Jahren im Amt nicht präsentiert. Und das habe System in Ungarn, findet sein Nachfolger:

Die meisten Fidesz-Bürgermeister sehen ihr Mandat so, als würden sie es von der Partei und nicht von den Menschen bekommen. Das will ich anders machen.

Gergely Karácsony

Mit einem ähnlichen politischen Ansatz hatten auch die größten Oppositionsparteien in Polen oder der Türkei zuletzt in den Metropolen Erfolge gegen autoritäre Regierungsparteien eingefahren. Karácsony traf sich deshalb im Vorfeld der Wahl demonstrativ mit den Bürgermeistern von Warschau und Istanbul und holte sich Wahlkampftipps. Am Ende halfen ihm aber auch zahlreiche Skandale, die im Wahlkampf publik wurden.

Glaubwürdigkeit durch innovatives Vorwahlsystem

Dass die Wähler ihm und dem Oppositionsbündnis in Ungarn ihr Vertrauen schenkten, liegt in den Augen des Politikwissenschaftlers Zoltán Tibor Pállinger von der deutschsprachigen Andrássy Universität in Budapest, vor allem an einer fast radikalen Veränderung in der Kandidatenauswahl:

Das Innovative hier in Budapest und auch in anderen Orten war, dass man nicht innerhalb von Parteien Vorwahlen veranstaltet hat, sondern oppositionelle Vorwahlen. Dabei ist es gelungen, einen großen Teil der Opposition einzubinden.

Zoltán Tibor Pállinger

So hatte das grundverschiedene Parteienbündnis für jede Kommune den vielversprechendsten Einzelkandidaten gewählt. Der konnte dann die Stimmen aller Nicht-Fidesz-Wähler auf sich vereinen.

Überwiegend symbolischer Erfolg

Mann mit grauen Haaren, Mantel und Brille läuft vor einem Palais entlang.
Der erfolg der Opposition sei ersteinmal nur symbolisch, meint der in Budapest lehrende Politologe Zoltán Tibor Pállinger. Nun müssten sie politisch liefern. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

10 der 23 größten Städte Ungarns konnte die Opposition so gewinnen. Mit Budapest kontrolliert sie nun das politische und wirtschaftliche Zentrum des Landes, in dem ein Fünftel der gesamten ungarischen Bevölkerung lebt. Auf Landesebene, wo Fidesz zusammen mit den ungarischen Christdemokraten (KDNP) mit Zweidrittelmehrheit regiert, ändere dies aber wenig.

Das liege vor allem am starken Zentralismus in Ungarn, erklärt Politikwissenschaftler Pállinger: "Die Kompetenzen, die ein Karácsony hat, sind beschränkt. Aber das Amt hat eine große symbolische Kraft. Ich glaube, das ist das größte Asset, über das er verfügt." Dazu gehört auch, dass das Amt des Bürgermeisters von Budapest als "zweithöchstes Exekutivamt" im Staat gilt und internationale Beachtung findet.

Orbans neuer Herausforderer?

Auch deshalb wird Karácsony in verschiedenen Medien bereits als "Anti-Orban" oder "Orbans neuer Erzfeind" bezeichnet. Er selbst will jedoch nicht als heimlicher Oppositionsführer wahrgenommen werden:

Ich glaube nicht daran, was übrigens auch viele unserer Wähler erwarten, dass jetzt ein starker oppositioneller Führer kommt, der die Probleme des Landes löst. Die Probleme des Landes soll das Land lösen.

Gergely Karácsony

Dennoch wird er bereits als natürlicher Spitzenkandidat der Opposition bei den Parlamentswahlen 2022 gehandelt. Karácsony selbst verweist darauf, dass auch dafür der Kandidat erst durch oppositionsinterne Vorwahlen bestimmt wird:  "Unsere zersplitterte Opposition kann nur eine echte Alternative darstellen, wenn wir einen Kandidaten mit demokratischen Entscheidungen legitimieren."

Bis dahin steht das Bündnis ohnehin vor ganz anderen Herausforderungen, meint Politikwissenschaftler Pállinger. Denn ab nun würden sie besonders an dem gemessen, woran alle Regierungen gemessen werden: "Sie müssen zeigen, dass sie auch in der Lage sind zu regieren. Und sie müssen sich im administrativen Klein-Klein beweisen." Den ersten kleinen Erfolg kann Bürgermeister Gergely Karácsony bereits vorweisen: Die neuen Büros sind so gut wie verteilt.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERNSEHEN | 05. November 2019 | 17:45 Uhr

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