Mein Ostblogger-Jahr Wahlkampf absurd: Die Selenskyj-Show in der Ukraine

17. Dezember 2019, 05:00 Uhr

Die Ukraine hat ein verrücktes Wahljahr hinter sich. Die Präsidentschaftskandidaten ließen im Wahlkampf ihre Blut- und Urinproben auf Drogen untersuchen und am Ende ist ein ehemaliger Komiker ins höchste Amt des Landes gewählt worden. Für unseren Ostblogger Denis Trubetskoy das Ereignis des Jahres 2019.

In der ukrainischen Politik überrascht mich nichts mehr. Zu viele Absurditäten habe ich hier schon gesehen und erlebt. Zu oft habe ich den Kopf geschüttelt und mich gefragt, wie soll ich das den deutschen Lesern erklären, wenn ich das doch selbst kaum verstehe? Doch dieses Jahr hat alles bisher dagewesene übertroffen. Zentral waren für mich dabei die Präsidentschaftswahlen. Normalität ist für die impulsive politische Landschaft der Ukraine sowieso ein Fremdwort, doch deren Verlauf und Ausgang verdient mindestens das Attribut "verrückt".

Angekündigt hat sich das schon zu Silvester 2018. Wenige Minuten vor Mitternacht verkündete der Komiker Wolodymyr Selenskyj, breitem Publikum als ukrainischer Präsident aus der Satire-Serie "Diener des Volkes" bekannt, dass er für das reale Präsidentenamt kandidieren wolle. Und obwohl nicht er, sondern die zweifache Ministerpräsidentin Julia Timoschenko zu jenem Zeitpunkt die Umfragen anführte, lag schon da etwas Außergewöhnliches in der Luft. Es war klar, dass ein bekannter Kandidat von außerhalb der Politik sich sowohl gegen Timoschenko als auch gegen den damals amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko durchsetzen könnte. Er durfte sich nur keine groben Fehler im Wahlkampf leisten.

Selenskyj spricht Gefühle der Normalverbraucher an

Bereits Ende Januar 2019 schaffte Selenskyj es an die Spitze der Umfragen. Grobe Fehler konnte der Politneuling auch vermeiden – dank einer klugen Strategie direkter Kommunikation in den sozialen Netzwerken bei gleichzeitiger Einschränkung von Kontakten mit traditionellen Medien. Doch entscheidender war, dass ein großer Teil der Ukrainer die latent aggressive nationalliberale Agenda der letzten Jahre satt hatte, die Amtsinhaber Poroschenko in seinem Wahlslogan "Armee! Sprache! Glaube!" auf den Punkt brachte.

Selenskyj dagegen vermittelte Gefühle. Etwa das Gefühl, unter seiner Präsidentschaft würde die ukrainische Gesellschaft wieder mehr zusammenwachsen. Oder das Gefühl, dass er den Kampf mit den politischen Eliten und mit den Oligarchen im Land aufnehmen könne. Ja, er könne daran scheitern, aber er würde es zumindest versuchen. Es war für mich spannend zu sehen, wie viele Ukrainer offen für solche Gefühle waren und sich gleichzeitig gegen die nationalliberale Politik der letzten Jahre aussprachen.

Poroschenkos Urinprobe als Tiefpunkt des Wahlkampfs

So fand sich die Ukraine plötzlich in einem Experiment wieder, das oft einer Reality-Show glich. Es kam zum Beispiel vor der Stichwahl zu einem Rededuell Selenskyj - Poroschenko. Dieses fand im Kiewer Olympiastadion statt - ein Novum. Im Rückblick muss ich sagen: Es war eine geile Show, hatte aber mit einer ernsthaften politischen Diskussion wenig zu tun. Auf jeden Fall habe ich im Stadion immer wieder gedacht: Was mache ich hier eigentlich? Ist das vielleicht doch eine Satire-Serie im Fernsehen?

Das Verrückteste war jedoch, dass der amtierende Präsident Poroschenko kurz zuvor Blut-, Urin- und Haarproben im Labor des Olympiastadions abgeben musste. Selensky hat das zur Bedingung gemacht, weil Poroschenkos Wahlkampfteam ihn ständig als Drogenabhängigen dargestellt hatte. Selbst für denPolit-Zirkus der Ukraine ein kurioses Bild: Da steht der amtierende Präsident, abgeschirmt von Ärzten, gibt eine Urinprobe ab und das Ganze wird für die anwesenden Journalisten live übertragen. Für mich kaum zu fassen!

Es fehlen schlicht Konzepte

In solchen Momenten frage ich mich, ob es in der Ukraine überhaupt noch eine Trennlinie zwischen Show und Politik gibt? Doch das eigentliche Problem ist nicht einmal die unendliche Show, die sich als Politik geriert oder ein Komiker, der zum Präsidenten gewählt wird. Das wahre Problem liegt in fehlenden Strategien für das Land. Wolodymyr Selenskyj scheint immer noch im Wahlkampfmodus zu sein. Sein Team beschränkt sich auf einzelne aufsehenerregende PR-Aktionen, statt seriöse Politik zu machen. In der emotionsgeladenen Ukraine geht es eben oft nur um Gefühle und nicht um Fakten. Das wurde 2019 noch einmal deutlich und wird sich wohl auch 2020 nicht ändern.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 28. August 2019 | 17:45 Uhr

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