Russland Osjorsk: Leben hinter Stacheldraht

28. August 2020, 13:03 Uhr

Nach wie vor gibt es in Russland geschlossene Städte. Eingezäunt und bewacht, brauchen Bewohner ein Visum, um die Stadt zu verlassen. Besuch dürfen sie nicht empfangen. Eine dieser Städte ist Osjorsk in der Nähe der Atomanlage Majak.

Osjorsk, in der Oblast Tscheljabinsk im Ural, ist eine freundliche Stadt mit hellen Häusern im "Stalinbarock", breiten Straßen und Parkanlagen. Einen Schönheitsfehler hat die Stadt allerdings: Sie ist von einem doppelten Stacheldrahtzaun umgeben, der Tag und Nacht vom Geheimdienst überwacht wird. Wenn die Einwohner ihre Stadt verlassen wollen, müssen sie ein Visum beantragen, Besuch von außerhalb ist tabu.

Europäischer Atommüll in Majak

Im Sperrgebiet um die Stadt befindet sich die Atomanlage "Majak" (Leuchtturm) mit mehreren Lagern für spaltbares Material, Reaktoren und einer Wiederaufbereitungsanlage. Dort landet seit Jahren der radioaktive Abfall vieler europäischer Länder. Umweltschützer halten die Aufbereitungsanlage "Majak" für ein Sicherheitsrisiko. Aus ihrer Sicht sind die Anlagen dort hoffnungslos veraltet und die Sicherheitsbestimmungen zu lax. Im November 2017 wurde im südlichen Ural eine Konzentration des radioaktiven Rutheniums gemessen, die den erlaubten Grenzwert um das 1.000-fache überstieg. Es wird vermutet, dass die Strahlung aus der Wiederaufbereitungsanlage "Majak" bei Osjorsk stammte. Gute Gründe,Osjorsk hinter einem Zaun abzuriegeln, scheint es also genug zu geben.

"Basis Nummer 10" - schon lange abgeriegelt

Osjorsk ist jedoch nicht erst seit einigen Jahren abgeriegelt, sondern wurde als geschlossene Stadt konzipiert. 1945 hatte die sowjetische Führung beschlossen, dort die Atombombe zu bauen. Vorbild war die geheime Stadt Richland in den USA, wo die Atombombe, die später auf Nagasaki abgeworfen wurde, gebaut worden war. Die geheime sowjetische Stadt wurde von Tausenden Gulag-Häftlingen errichtet. Sie trug zunächst den Namen "Basis Nummer 10", später wurde sie "Tscheljabinsk-40" genannt. Seit 2001 heißt die Stadt Osjorsk.

Geburtsort der sowjetischen Atombombe

Im Sperrgebiet wurde die Atomanlage "Majak" errichtet. Tausende Wissenschaftler und Techniker, die die Bombe bauen sollten, wurden nach Osjorsk umgesiedelt. Sie bekamen hübsche Wohnungen und ihr Gehalt lag weit über dem Landesdurchschnitt. Geleitet wurde das geheime Projekt vom sowjetischen Atomphysiker Igor Kurtschatow. Nur drei Jahre später, 1948, konnte im streng abgeschotteten Osjorsk der erste Atomreaktor der UdSSR in Betrieb genommen werden. Osjorsk gilt damit als Geburtsort der sowjetischen Atombombe.

Die verschwiegene Katastrophe

Am 29. September 1957 kam es in der Atomanlage "Majak" zur Katastrophe: Ein Stahltank, gefüllt mit 80 Tonnen einer hoch radioaktiven Flüssigkeit, explodierte. Die Detonation war noch in mehreren Hundert Kilometern sichtbar gewesen - der Himmel leuchtete bläulich. In sowjetischen Zeitungen stand später, es habe sich um Polarlichter und Wetterleuchten gehandelt. Die wahre Ursache wurde geheim gehalten. Im Westen erfuhr man nichts von der Katastrophe, bei der mehr Radioaktivität freigesetzt worden sein soll als bei der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl dreißig Jahre später. Ein Südwestwind trieb die Strahlung vom Westen weg. Der radioaktive Niederschlag blieb im Ural.

Massenumsiedlung

Eine Woche nach der Katastrophe wurden etwa 1.000 Menschen, die im Umkreis 25 Kilometer um Osjorsk wohnten, umgesiedelt. In den darauf folgenden Jahren mussten weitere 10.000 Menschen ihre Dörfer verlassen. Die Häuser wurden anschließend abgerissen, um die Menschen von einer späteren Rückkehr abzuhalten. Nur die Gotteshäuser ließ man stehen.

Auch in Osjorsk herrschte nach der Detonation Panik. Straßen und Häuser wurden von Wasserfahrzeugen der Stadtverwaltung abgespritzt und über Radio und Lautsprecher wurden die Einwohner aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen. Noch heute sind viele Viertel in Osjorsk verseucht und Sperrgebiet.

30 Jahre Staatsgeheimnis

Die Explosion in der Fabrik "Majak" in Osjorsk war in der UdSSR mehr als 30 Jahre lang ein streng gehütetes Staatsgeheimnis. Erst 1990 erfuhr die Öffentlichkeit von dem Unfall in der Plutoniumfabrik. Wie viele Menschen bei der Explosion selbst und an den Spätfolgen starben, ist nicht bekannt und wird wohl nie mehr herauszufinden sein. Denn: Osjorsk bleibt eine geschlossene Stadt.

(sl/voq)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERSEHEN | 02. August 2019 | 17:45 Uhr

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