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Armin Wolf ist Moderator und stellvertretender Chefredakteur der ORF-Fernsehinformation. Im MEDIEN360G-Interview spricht er über sein Verständnis von "Haltung im Journalismus" und den Einfluss sozialer Medien. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Christian Wind
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Armin Wolf teilt seine Gedanken zum Thema Meinungen im Journalismus und kritisiert den Haltungsbegriff. Seinen Fokus legt er im Interview auf die Rolle sozialer Medien.

Mi 04.01.2023 10:59Uhr 23:58 min

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Das Interview zum Nachlesen Qualitätsjournalismus, Haltung und soziale Medien

10. Januar 2023, 09:32 Uhr

Armin Wolf ist Moderator des österreichischen Nachrichtenportals "Zeit im Bild 2" und stellvertretender Chefredakteur der ORF-Fernsehinformation. Im Interview mit MDR MEDIEN360G spricht er über den Haltungsbegriff, über die Vorteile sozialer Medien für den Journalismus und das Handwerk der Berichterstattung.

MEDIEN360G: Ich will zunächst mal ein bisschen zurückgehen ins Jahr 2019. Damals sind Sie zu Europas "Journalist des Jahres" gekürt worden und ich habe noch mal nachgeschaut: Damals hieß es, Sie bekommen diesen Titel für Ihren aufrechten und transparenten Haltungsjournalismus. Ist Haltung zu zeigen inzwischen ein Qualitätskriterium für Journalisten geworden?

Armin Wolf: Haltung ist aus meiner Sicht grundsätzlich wichtig, weil man sonst Rückenprobleme kriegt. Aber ansonsten kann ich mit dem Begriff relativ wenig anfangen. Ich kann mich auch gar nicht daran erinnern, dass das in der Begründung stand.

MEDIEN360G: Vielleicht können wir ja mal ein bisschen persönlicher werden - wenn Sie das schon so illustrieren, dass Haltung für Sie fast schon etwas Körperliches ist. Was glauben Sie denn, was die Menschen, wenn sie mit Ihnen konfrontiert werden, als "die Haltung von Armin Wolf" bewerten würden?

Armin Wolf: Ich würde mal hoffen, dass die Zuseher der ZIB2 mich wahrnehmen als einen Journalisten, der sich bemüht, seine Arbeit möglichst gut zu machen. Der Kern unserer Sendung sind ja Interviews - im Normalfall mit wichtigen Politikerinnen und Politikern - in denen versucht wird, die Positionen der Studiogäste kritisch zu hinterfragen. Aber: gut vorbereitet, fair, höflich, aber kritisch. Und das Ergebnis des Ganzen sollte sein: Ich konfrontiere Studiogäste mit Widerspruch, mit Gegenargumenten und mit anderen Positionen. Und sie sind dadurch gezwungen, ihre Haltung und ihre Positionen zu erklären und nicht nur zu verkünden, wie bei Pressekonferenzen oder Parteitagsreden oder Ähnlichem. Und die Zuseher und Zuseherinnen können zuschauen und sich dann überlegen, ob sie das überzeugend finden oder nicht.

MEDIEN360G: Verstehe ich Sie dann richtig, dass Haltung im Journalismus auch eine Frage des Handwerks ist? Inhaltlich ist "Haltung zeigen" ja das Eine. Aber ist "Haltung" im Sinne der Fragetechnik dann auch eine Art Haltung?

Armin Wolf: Ich kann mit dem Begriff Haltung tatsächlich relativ wenig anfangen. Also was bedeutet das? Mir geht es tatsächlich mehr um Handwerk. Also, ich glaube, Journalisten sollten das machen, was Carl Bernstein, also der Kompagnon von Herrn Bob Woodward in der Watergate-Affäre, so schön definiert hat. "Journalismus ist der Versuch, der Wahrheit so nah wie nur irgendwie möglich zu kommen". Das ist unser Job. Und den sollen wir handwerklich gut machen. Das heißt, kompetent, sachkundig, fair, mit ergebnisoffener Recherche uns sorgfältig der Wahrheit nähern. Klar, gibt es sozusagen eine gewisse Grundposition. Also: Ich bin ein Journalist in einem demokratischen Gemeinwesen. Ich weiß nicht, ob ich in einer Diktatur Journalist wäre. Vielleicht wäre ich hoffentlich mutig genug, in einem Untergrund-Medium Journalist zu sein. Ich wäre nicht Journalist bei einem öffentlichen Medium in einer Diktatur. Ich bin Journalist in einem demokratischen Gemeinwesen. Das heißt, ich stehe quasi am Boden des Grundgesetzes.

MEDIEN360G: Und das gibt ja die Haltung schon fast vor. Würden Sie den Begriff "Haltungsjournalismus" als Vorwurf betrachten?

Armin Wolf: Deswegen finde ich ja den Begriff "Haltungsjournalismus" problematisch, weil es ja tatsächlich eine Kampfvokabel geworden ist. Und übersetzt bedeutet das doch Gesinnungsjournalismus, und damit kann ich nichts anfangen.

MEDIEN360G: Also verstehe ich Sie richtig: Gesinnungsjournalismus und Haltungsjournalismus sind für Sie im Prinzip also ein und dasselbe?

Armin Wolf: Nein, ich kann mit dem Wort Haltungsjournalismus nichts anfangen. Was ist Haltungsjournalismus? Ich weiß nicht, was es ist. Also das Wort verwenden ja tatsächlich nur Menschen, die etwas kritisieren wollen. Und die, glaube ich, damit Gesinnungsjournalismus meinen. Ich bin kein Freund von Gesinnungsjournalismus. Ich glaube, Journalisten sollten sich ergebnisoffen der Wirklichkeit nähern. Alles andere ist Aktivismus. Aktivismus ist total wunderbar. Eine Demokratie lebt von Aktivismus. Ich glaube nur, dass Journalismus etwas Anderes ist. Journalismus ist der Versuch, die Wirklichkeit so gut wie möglich zu beschreiben. Und deswegen kann ich mit dem Begriff Haltungsjournalismus nichts anfangen. Ich bin kein Haltungsjournalist. Ich bin Journalist und ich versuche, meine Arbeit immer gut zu machen. Ich habe meine Positionen. Die habe ich auf meinem Twitter-Profil geschildert. Ich weiß es nicht auswendig, aber ich kann es vorlesen. Da steht: "Ich bin für Menschenrechte und dagegen, Menschen gegeneinander aufzuhetzen, für Fakten und gegen Unwahrheiten im demokratischen Diskurs." Das können Sie als Haltung bezeichnen, wenn Sie wollen. Ich mache trotzdem keinen Haltungsjournalismus. Aber klar betreibe ich Journalismus auf dieser Basis.

MEDIEN360G: Weil Sie das gerade ansprechen: Diese Twitter-Geschichte ist ja eine super Chance für Ihre Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie können sozusagen, indem sie das lesen, genau einordnen: Wie tickt Armin Wolf? Heißt das, indem Sie twittern, sind Sie fair zum Rezipienten, weil der weiß, was er von Ihnen zu erwarten hat?

Armin Wolf: Ich würde jetzt doch hoffen, dass die Zuseher so schon die Idee kriegen, dass ich für Menschenrechte bin, sodass ich das eigentlich nicht twittern müsste. Also ich habe das natürlich auch auf meinen Twitter-Account geschrieben, weil es natürlich permanent von irgendwelchen Idioten irgendwelche idiotischen Unterstellungen gibt. Also habe ich es mal draufgeschrieben. Ich finde es ja eine ziemliche Binsenweisheit. Ich bin für Menschenrechte und für Menschenwürde und für Wahrheit und gegen Lügen. Ja, ich bin auch für das Gute, Wahre und Schöne und gegen das Böse.

MEDIEN360G: Das Thema Twittern ist insofern ja auch interessant. als dass Sie schon mehrfach betont haben, dass es ein großes Problem ist, dass Menschen gar nicht mehr über klassische, traditionelle Medien erreicht werden. Ich glaube, da reden wir in Österreich und Deutschland über die gleichen Probleme, was Glaubwürdigkeit und Vertrauen angeht. Ist twittern für Sie auch ein bewusstes Stilmittel, weil Sie eben genau als derjenige mit Ihrer Popularität, letzten Endes ja auch mit Ihrem Know-how, genau in diese Blasen von Menschen, die sich nicht mehr über klassische Angebote erreichen lassen, reinwollen?

Armin Wolf: Ich glaube, das Problem der öffentlich-rechtlichen Medien ist nicht primär das Vertrauen. Da sind wir immer noch deutlich besser als die allermeisten anderen Medien und viel, viel besser als Twitter und alle sozialen Plattformen. Das Besondere ist, dass man dort tatsächlich Menschen erreicht, die man mit traditionellen Medien einfach nicht mehr erreicht. Weil: Der durchschnittliche 17-, 18- oder 19-Jährige weder täglich eine gedruckte Tageszeitung liest, noch um 20 Uhr gebannt vor der Tagesschau sitzt oder 19.30 Uhr vor unserer Hauptnachrichtensendung. Und ich möchte tatsächlich dort Menschen erreichen, die man sonst schwer erreicht. Und ich bin tatsächlich der Meinung, dass seriöse Medien die sozialen Plattformen nicht nur Propagandisten und Paranoikern und PR-Leuten überlassen sollten. Millionen Menschen bekommen ihre Informationen dort und die sollen dort auch die Chance haben, seriöse Informationen zu kriegen. Und deswegen glaube ich, dass seriöse Medien dort präsent sein sollten.

MEDIEN360G: Wie sehr haben die neuen Medien die Ansprüche an den Journalismus verändert und inwiefern?

Armin Wolf: Die neuen Medien haben natürlich den Journalismus verändert. Zum Einen, weil alles unendlich viel schneller geworden ist, was kein Vorteil ist. Es ist halt so. Also man kann nichts dagegen tun. Aber es ist kein Vorteil, weil Journalismus ein Handwerk ist, das eine gewisse Zeit braucht, das nicht in der Sekunde geht. Und diese unglaubliche Beschleunigung ist kein Vorteil, aber sie ist nunmal da und wir müssen uns damit auseinandersetzen. Und die zweite, ganz große Veränderung ist: Wir senden nicht mehr nur. Früher konnten wir tatsächlich vom Lerchenberg oder von wo immer versenden. Millionen Menschen haben das gesehen und konnten de facto nicht zurückreden. Also sie konnten beim Kundendienst anrufen und vielleicht hat irgendjemand das Protokoll gelesen oder auch nicht und das ernst genommen oder auch nicht. Aber ansonsten konnten Menschen nicht mit uns in Kontakt treten. Und jetzt können plötzlich Abermillionen Menschen zurückreden. Und sie können ja nicht nur zurückreden, sondern sie können auch öffentlich zurückreden und uns öffentlich kritisieren. Und ich glaube, wir müssen uns mit dem auseinandersetzen. Wir müssen viel, viel mehr als früher unsere Arbeit erklären, uns mit Kritik auseinandersetzen und uns mit unserem Publikum beschäftigen. Das ist wahnsinnig anstrengend. Aber trotzdem ist das, glaube ich, kein Nachteil, weil wir für ein Publikum arbeiten und nicht für uns selber.

MEDIEN360G: Heißt das für Sie, dass beispielsweise die Kommentarfunktionen so betreut und moderiert werden müssen, dass sie den Ansprüchen an den Qualitätsjournalismus standhalten? Müssen echte, erfahrene Redakteure nicht mehr klassische Beiträge produzieren, sondern möglicherweise Internetforen moderieren?

Armin Wolf: Irgendwann stößt man eben auch an die Grenzen seines Arbeitstages. Ob das alles die gleichen Leute machen müssen? Da bin ich unsicher. Und soziale Plattformen sind sehr spezielle Medien mit sehr speziellen Anforderungen. Ich glaube, es ist gescheiter, wenn das Menschen machen, die sich da wirklich auskennen. Möglicherweise ist es gescheiter, wenn das tendenziell eher 25- bis 30-Jährige machen, als 55-Jährige wie ich. Aber klar, das gehört moderiert. Man muss sich mit den Kommentaren auseinandersetzen. Man kann nicht alles stehen lassen. Gleichzeitig muss man als öffentlich-rechtlicher Anbieter zum Beispiel mit dem Blockieren von Kommentatoren großzügiger sein, als ich es auf meinem privaten Profil sein muss. Wenn mir jemand blöd kommt, nämlich im Sinne von sexistisch, rassistisch, Menschen beschimpfend oder verleumdend, dann blocke ich sie in der Sekunde weg, weil ich keine Lust habe, damit Tageszeit und Lebenszeit zu verbringen. Da muss man natürlich bei einem öffentlich-rechtlichen Angebot diplomatischer sein. Man muss die Leute letztlich beobachten und verwarnen. Man kann nicht jeden, der nicht gefällt, wegblocken. Auf meinem privaten Profil blocke ich genauso jeden weg, wie ich jeden aus meiner Wohnung schmeißen würde, der mir komisch kommt.

MEDIEN360G: Ich würde gern nochmal einen Schritt zurückgehen. Weil wir vorhin über Aktivismus gesprochen haben. Ihr Kollege und Monitor-Moderator Georg Restle ist 2018 auf der Unteilbar-Demo in Berlin als Redner aufgetreten. Das ist für mich Aktivismus. Ist das auch aus Ihrer Sicht Aktivismus? Und wie vertretbar ist es, wenn prominente Journalisten sowas in der Öffentlichkeit machen?

Armin Wolf: Ich würde nicht auf einer Demonstration auftreten. Wobei, das stimmt nicht. Es gibt doch Demonstrationen, wo ich auftreten würde. Nämlich wenn jemand versuchen würde, in Österreich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abzuschaffen oder die Pressefreiheit einzuschränken. Also, wenn es tatsächlich unmittelbar um unseren Beruf geht. Da würde ich tatsächlich demonstrieren gehen - für Rundfunkfreiheit. Ich habe im ORF tatsächlich schon Aktionen initiiert und maßgeblich unterstützt, bei denen es um den politischen Einfluss im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ging. Aber darüber hinaus würde ich nicht auf einer Demonstration auftreten. Ich unterschreibe keine Volksbegehren. Ich unterschreibe keine öffentlichen Aufrufe. Ich finde, das passt nicht zu meinem Job als öffentlich-rechtlicher Journalist. Ich sehe das übrigens anders bei Zeitungsjournalisten oder beim Menschen, die Meinungs-Kommentare und Leitartikel schreiben. Also wenn jemand im Leitartikel schreibt, er findet Politiker Y super und Politikerin X furchtbar: Warum soll er das dann nicht auch auf einer Demonstration sagen? Ich sehe jetzt den Unterschied nicht. Aber ich schreibe keine Leitartikel.

Porträtfoto von Georg Restle 31 min
Mit MEDIEN360G spricht Georg Restle über Haltung im Journalismus, dessen Auftrag innerhalb der deutschen Verfassung und die Forderung nach mehr Neutralität. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | WDR Klaus Görgen

MEDIEN360G: Sie sprechen den Unterschied zwischen dem öffentlich-rechtlichen Wesen und den privatwirtschaftlich orientierten Verlegern an. Erlaubt dieser Unterschied auch verschiedene Antworten auf die Frage, wo mehr oder weniger Haltung im Journalismus erlaubt ist? Ich sag mal so, beim Öffentlich-Rechtlichen sind alle verpflichtet, zu zahlen. Wenn ich mir eine taz kaufe, weiß ich, wofür ich Geld ausgebe.

Armin Wolf: Da gibt es tatsächlich einen kleinen Unterschied zwischen Österreich und Deutschland. In Deutschland gibt es im Fernsehen ja tatsächlich Meinungs-Kommentare, die dort von Journalistinnen und Journalisten gesprochen werden. Wir in Österreich haben das nicht und ich finde das auch gut so. Also wir sind tatsächlich zur Unparteilichkeit und Ausgewogenheit verpflichtet. Wir haben keine Meinungs-Elemente. Ich schreibe keine Leitartikel. Ich verlese keine Leitartikel. Ich äußere meine private politische Meinung nicht öffentlich - weder im Fernsehen noch sonst wo - weil ich finde, dass ich das meinem Job schuldig bin. Das wusste ich, als ich den Job begonnen habe. Und ich empfinde es nicht als wesentliche Einschränkung. Wenn ich gern demonstrieren gehen würde, dann müsste ich halt woanders arbeiten.

MEDIEN360G: Weil Sie gerade eine internationale Note einbringen. Sprechen wir über England, wo die BBC in den Schlagzeilen ist. Dort habe man in der Bevölkerung sehr stark an Vertrauen verloren, weil man sich fast einem Neutralitätswahn verschrieben hatte. Der Brexit ist vielleicht ein extremes Beispiel für die Auswirkungen, die das haben kann. Wie beobachten Sie das denn, dass in Großbritannien der Öffentlich-Rechtliche auch in einer großen Krise steckt, dieser Neutralitätswahn möglicherweise als eine Ursache dafür gilt und jetzt zumindest mal versucht wird, das Ganze so ein bisschen aufzubrechen, indem ja auch Leute - ähnlich wie Sie das damals getan haben, als Sie die ORF-Spitze angegriffen haben - sich auch aktiv gegen die bisherige Unternehmenspolitik stellen?

Armin Wolf: Ich finde diese Neutralitätsdebatte tatsächlich extrem interessant und ganz, ganz wichtig, weil wir das bis vor ein paar Jahren eigentlich nicht diskutiert haben und ich fand das auch ganz selbstverständlich für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Nur sprachen wir da über die Neutralität zwischen "Partei A hat diesen Vorschlag zur Steuerpolitik und Partei B hat jenen Vorschlag zur Steuerpolitik". Und wir als öffentlich-rechtliche Journalisten sagen nicht, der ist besser oder der ist schlechter. Sondern wir beschreiben Vor- und Nachteile und die Zuseher sollen entscheiden. Und das halte ich auch nach wie vor für sinnvoll. Wir sind keine Parteigänger und Parteigängerinnen. Wenn es aber dann plötzlich um die Neutralität in Bezug auf einen US-Präsidenten geht, der im Laufe seiner Amtszeit über 30.000 nachgewiesene Lügen und Unwahrheiten öffentlich verbreitet hat und den Ausgang einer demokratischen Wahl nicht anerkennt und seine Anhänger de facto zum Sturm aufs Parlament aufruft, glaube ich, können wir tatsächlich nicht neutral sein. Jay Rosen, ein sehr bekannter amerikanischer Medientheoretiker, hat kürzlich ein sehr interessantes Interview gegeben und einen Artikel geschrieben. Er sagt: Journalisten müssen tatsächlich Position beziehen, nämlich "pro-thruth und pro-democracy". Wir müssen tatsächlich auf der Seite der Wahrheit und der Fakten und auf der Seite der Demokratie und des demokratischen Prozesses stehen. Innerhalb dieses demokratischen Prozesses und der Demokratie, glaube ich, sollten wir als Öffentlich-Rechtliche ausgewogen und unparteilich sein. Aber Feinde der Demokratie und Demokraten sind tatsächlich nicht gleich zu behandeln.

MEDIEN360G: Das klingt ja für mich doch nach einer Frage der Haltung.

Armin Wolf: Ich habe mit dem Begriff "Haltung" nur ein Problem, weil er letztlich denunziert worden ist. Wie ich vorhin versucht habe, zu sagen: Haltungsjournalismus meint ja nicht Haltungsjournalismus, sondern es meint Gesinnungsjournalismus. Das, was ich gerade geschildert habe, ist, glaube ich, keine Gesinnung, sondern eine grundsätzliche demokratische Position. Ich bin tatsächlich für Demokratie und ich bin für Menschenrechte. Und ich werde einen Politiker oder eine Politikerin, die fordert, die Folter wiedereinzuführen, nicht gleichbehandeln wie jemandem, der sich im demokratischen Spektrum bewegt.

MEDIEN360G: Sie meinen damit das extreme Erstarken der Populisten. Deren Anhänger bewegen sich oft in einer selbstgemachten Opferrolle und finden dort Bestätigung für ihre Positionen. Wenn man als öffentlich-rechtlicher Sender diese Gruppe zurückgewinnen will: Wie kann das gelingen?

Armin Wolf: Ich habe in diesem Zusammenhang mit dem Begriff "Populisten" ein Problem, weil er verharmlosend ist. Ich spreche über Anti-Demokraten. Ich glaube, dass wir Anti-Demokraten nicht so behandeln können wie Demokraten. Populisten können auch demokratisch sein. Das muss mir nicht sympathisch sein, aber Populismus ist perse nicht verboten. Wenn es dann darum geht, Menschenrechte infrage zu stellen, die Menschenwürde infrage zu stellen, demokratische Prozesse und Institutionen infrage zu stellen, gibt es dort ein Problem mit der Neutralität. Ansonsten darf jede Partei auch Forderungen erheben, die mir persönlich und privat unsympathisch sind. Ich bin ja kein Richter. Ich bin Journalist. Ich berichte. Aber ich möchte eben innerhalb des demokratischen Grundkonsenses berichten. Aber was tun wir mit Menschen, die dafür nicht mehr erreichbar sind? Ja, schwierig. Ich glaube, wir müssen Angebote machen. Angebote, die niederschwellig und möglichst zugänglich sind. Darum glaube ich beispielsweise, dass wir auf Social Media aktiv sein müssen, weil es so viele Menschen gibt, die Informationen de facto nur mehr dort aufnehmen. Und diese Menschen müssen dann dort ein vernünftiges Angebot kriegen. Es hilft ja nichts, wenn wir sagen würden: Wir senden jeden Tag um 20 Uhr in der Tagesschau wunderbare Informationen, wenn Menschen das nicht einschalten, weil sie gar keinen Fernseher mehr haben oder weil sie dem Fernsehen grundsätzlich nicht vertrauen. Ich habe mal in einem Vortrag gesagt: Zur Not müssen wir die Menschen, die dort sind, mit vernünftigen Informationen verfolgen. Sie sollen uns also möglichst nicht entkommen. Im Sinne von: Sie sollen dort, wo sie sind, ein vernünftiges, seriöses journalistisches Angebot finden. Wir sollten sie in diesen Blasen von Paranoia und Propaganda nicht allein lassen.

MEDIEN360G: Den Vortrag, den Sie ansprechen, haben Sie im Jahr 2016 gehalten. Wir sitzen jetzt hier im Jahr 2022. Sechs Jahre sind seitdem vergangen. Haben Sie das Gefühl, dass sich seitdem etwas geändert hat?

Armin Wolf: Ja, es ist noch schlimmer geworden in der Zeit. Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.

MEDIEN360G: Schwer vorstellbar. Ich glaube, dass gerade sich dann auch die Formatfrage stellt. Haben die traditionellen Massenmedien noch nicht mit geeigneten Formaten reagiert? Ich weiß nicht, dafür stecke ich zu wenig im ORF. Für Deutschland kann ich sagen, dass ich das Gefühl habe, dass die Angebote rar sind, um solche Leute da abzuholen, wo sie abgeholt werden müssten. Gerade junge Leute unter 30.

Armin Wolf: Das sehe ich nicht so. Ich finde zum Beispiel, dass Funk wirklich ein fantastisches Angebot ist. Das schauen wir jeden Tag neidisch an, weil wir es in Österreich aus rechtlichen Gründen nicht machen dürfen. Weil wir völlig absurderweise immer noch alles, was wir online anbieten, vorher linear ausstrahlen müssen. Das ist völlig verrückt, aber eine gesetzliche Vorgabe. Ich finde, Funk macht fantastische Sachen und auch hoch erfolgreich. Soziale Medien sind, glaube ich, tatsächlich inhärent böse. Ich bin überhaupt kein Fan von sozialen Plattformen. Ich glaube, die machen die Menschheit nicht besser. Aber sie sind da. Und Abermillionen Menschen nutzen sie und zwar nicht nur zu Unterhaltungszwecken, sondern auch für Informationen. Also glaube ich, dass wir dort Angebote machen müssen. Niemand wird zusätzlich auf Facebook oder auf Instagram gehen, weil die Tagesschau dort ist. Die Leute sind schon dort. Wir bringen diesen bösen Plattformen quasi keine neuen Kunden, sondern die sind schon dort. Und denen sollen wir seriöse Angebote machen. Es ist total wichtig, denn ansonsten werden die Leute tatsächlich in ihren Blasen versinken.

MEDIEN360G: Wenn das so ist, wie Sie sagen, und die Angebote in Deutschland da sind. Dann ist es an dieser Stelle vielleicht eine These, zu behaupten, dass der Öffentlich-Rechtliche, zumindest in Deutschland, schwer in der Lage ist, das so zu verkaufen oder so anzupreisen, dass die Leute in Scharen von den Ufern zulaufen, von denen Sie vielleicht zulaufen sollten.

Armin Wolf: Dazu kenne ich die Zahlen in Deutschland zu wenig. Unser Instagram-Account der Zeit im Bild, also unserer Tagesschau in Österreich, hat eine Million Abonnenten. Und das in einem Land mit neun Millionen Menschen. Unser Facebook-Account hat eine Million Abonnentinnen und Abonnenten. Und unser TikTok-Account, der erst ein paar Monate alt ist, hat 350.000 Abonnentinnen. Auf allen diesen Plattformen sind wir mit weitem Abstand das größte News-Angebot.

MEDIEN360G: Welchen Tipp geben Sie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland aus Ihrer österreichischen Perspektive? An welchen Stellen muss er sich öffnen? Wo muss er sich neu erfinden? Was schlagen Sie da vor?

Armin Wolf: Das ist ja möglicherweise gerade nicht ganz so einfach wegen der ganzen RBB-Krise. Ich glaube, wir müssen den Menschen besser erzählen, warum es wichtig ist, was wir machen, ohne ihnen dabei belehrend auf die Nerven zu gehen. Das ist total schwierig. Das ist wirklich schwierig. Und es gibt ein gewisses Segment der Bevölkerung, das nicht erreichbar ist. Also Menschen, die jede Woche auf der Straße dagegen demonstrieren, dass die Regierung einen Völkermord organisiert, indem sie eine Corona-Impfung zulässt. Die werden wir nicht mehr erreichen, also die sind verloren. Aber das ist ja ein extrem schmales Segment der Bevölkerung. Und die gab es ja immer schon. Die sind jetzt lauter und sichtbarer durch Social Media. Aber die waren auch früher unerreichbar. Ansonsten glaube ich, dass die allermeisten Menschen nicht böswillig sind und dass man denen schon erklären kann, warum seriöser Journalismus und seriöse Informationen etwas Sinnvolles sind und dass das, was wir machen, einen Wert für die Gesellschaft und für das demokratische Gemeinwesen hat. Ich verbringe wahnsinnig viel Zeit auf Twitter. Viel zu viel! Alle vernünftigen Dinge sollte ich viel öfter tun. Ins Theater gehen und vielmehr Bücher lesen stattdessen. Aber ich habe fast 600.000 Follower in einem Land mit neun Millionen Menschen. Und ich glaube, es ist einfach sinnvoll, denen zu erklären, was wir machen. Und ich habe damit letztlich nur gute Erfahrungen.

MEDIEN360G: Das teile ich. Aber ich frage mich auch, wie das klappt.

Armin Wolf: Es ist viel Arbeit. Und ich kann es tatsächlich nur in einem kleinen Land machen. Ich könnte das, was ich mache, in Deutschland nicht machen. Also hätte ich sechs Millionen Follower, könnte ich das rein zeitmäßig nicht mehr bewältigen. Es ginge nicht mehr.

MEDIEN360G: Mitteldeutschland hat eine ähnliche Einwohnerzahl wie Österreich. Gleichzeitig haben die Ostdeutschen ganz andere Probleme und Biografien als die Österreicher. Es gibt viele Fragezeichen: Wie kriegt man die Leute abgeholt? Für mich ist die große Frage: Wann gab es denn eigentlich diesen Bruch? Ab wann hat die Acceleration der Technik dazu geführt, dass die Leute verloren gegangen sind, weil sie ganz andere Informationswege eingeschlagen haben?

Armin Wolf: Ich glaube, das kann man relativ gut festmachen. Wobei Ostdeutschland ist vermutlich noch mal eine spezifische Situation, wo ich mich wahrscheinlich zu wenig auskennen. Dass es ganze Dörfer gibt, in denen sich verrückte Volksgemeinschaften organisieren, ist mir wirklich fremd. Aber Westdeutschland ist jetzt nicht ganz anders als Österreich. Und da gab es ja früher auch schon an jedem Stammtisch in jedem Dorf, irgendeinen Dorf-Nazi und irgendeinen politisch verirrten Dorftrottel, der am Stammtisch gesessen und seine absurden Thesen verbreitet hat. Um 2 Uhr früh haben dann die anderen gesagt: "Jetzt beruhige Dich mal und jetzt bringen wir dich nach Hause." Und er hatte halt das Gefühl, er sei allein oder maximal gab es vielleicht noch ein Zweiten, der ihm Recht gegeben hat. Und dann wurden Facebook und andere soziale Medien erfunden und jetzt ist der Kerl darauf gekommen: Im nächsten Dorf gibt es ja auch noch einen oder mehrere Kerle wie mich. Und plötzlich können diese Leute eine Facebook-Gruppe bilden, wo sie plötzlich tausende sind und sich dementsprechend bestärkt fühlen, lauter werden und sichtbarer werden. Ich glaube gar nicht, dass es so viele mehr gibt als früher. Sie sind nur durch Social Media sichtbarer geworden und können dort auch selber verstärken. Das ist wirklich ein Phänomen von Social Media. Ich glaube, das kann man brutal genau eingrenzen.

MEDIEN360G: ... sagt Armin Wolf. Wir danken ganz herzlich für das Gespräch!

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