Porträt von Prof. Dr. Vinzenz Wyss 15 min
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Der Journalismus steckt in Krisen wie der Corona-Pandemie in einem Dilemma. Denn er muss beides sein: Schneller Informationsvermittler und kritischer Hinterfrager, sagt der Journalistik-Professor Vinzenz Wyss.

Fr 19.06.2020 09:58Uhr 14:48 min

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Interview mit Prof. Dr. Vinzenz Wyss "Corona hat gezeigt, wie wichtig Medien in dieser Krisensituation sind."

25. Juni 2020, 14:41 Uhr

In der Corona-Pandemie spielen die Medien eine wichtige Rolle. Denn auch wenn andere Informationskanäle wichtiger geworden sind: Gerade in Krisenzeiten greifen viele Menschen vor allem auf die Angebote der klassischen Medienhäuser und Sendeanstalten zurück, um zuverlässige Informationen zu bekommen. Zur Aufgabe der Medien gehört dabei auch immer, Nachrichten zu erklären und zu hinterfragen. Das hat nach Meinung des Schweizer Journalistik-Professors Vinzenz Wyss nicht immer gut geklappt.

Denn vor allem in den ersten Wochen ab Anfang März hätten sich die Journalistinnen und Journalisten in ihrer Berichterstattung zu stark auf die reine Weitergabe von Informationen konzentriert. Ganz oben standen dabei zum Beispiel die gesundheitspolitischen Maßnahmen der Regierungen. "Oder auch der Vergleich von Fallzahlen, wie viele Menschen sich mit dem neuen Corona-Virus infiziert hatten", so der Wissenschaftler, der an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur lehrt und sich auch sehr gut in Deutschland auskennt. Im Interview mit MDR MEDIEN360G sagt Vinzenz Wyss, dass "hier doch die Medien sehr stark einfach an den Zahlen hingen und diese verlautbart haben. Das kann zum Teil auch zu Panik führen, wenn man quasi Ranglisten aufstellt: Welche Länder führen da an, wo sind die Erkrankungen oder die Zahl der Infektion am meisten fortgeschritten?" Dabei sei oft versäumt worden, die Zuverlässigkeit der Zahlen zu prüfen oder zu erklären, was eigentlich miteinander vergleichbar ist und was nicht, so Wyss.

Zur Person Prof. Dr. Vinzenz Wyss

Vinzenz Wyss ist Kommunikationswissenschaftler und Professor für Journalistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur (ZHAW). Der Schweizer Medien- und Kommunikationswissenschaftler arbeitet im Schwerpunkt Journalismustheorie, journalistische Qualität und Qualitätsmanagement, Medienethik und Medienkritik.

Dilemma für Journalistinnen und Journalisten

Natürlich braucht es in der Gesellschaft unabhängige Medien als Informations-Weiterleiter. Sie müssten aber auch "Vermittler zwischen der Bevölkerung und den Regierenden" sein und "verschiedenste Perspektiven aufnehmen, um wirklich Orientierung zu stiften". Es sei daher wichtig, "nicht nur zu informieren, sondern den Regierenden auch kritisch auf die Finger zu schauen", so Wyss. Dabei fänden sich Journalistinnen und Journalisten in einem Dilemma wieder. Denn sie sollten einerseits kritisch berichten und recherchieren. Dazu gehöre auch, mögliche Schwachstellen und Fehler schonungslos zu benennen. Dies nennt Wyss die journalistische "Pflichtethik". Gleichzeitig müssten die Medien aber auch die Folgen ihrer Berichterstattung im Blick haben und berücksichtigen. Denn gerade in Krisensituationen, in denen alle betroffen sind und über vieles noch Unklarheit herrscht, könne leicht Panik entstehen. Dies ist dann die so genannte "Verantwortungsethik".

Wahrheit oder Pflicht?

Maßstab für journalistische Entscheidungen muss daher immer die Verhältnismäßigkeit sein, schrieb Wyss schon Mitte März 2020 in einem Gastbeitrag für das Medienportal meedia: "Ein rein pflichtethisch orientierter Journalismus schert sich nicht um die Folgen (und unbeabsichtigte Nebenfolgen)" der Berichterstattung. "Und Journalisten, die ausschließlich nach der Verantwortungsethik handeln, laufen Gefahr, in einen Gefälligkeitsjournalismus oder in Hofberichterstattung abzudriften, wenn sie der Öffentlichkeit keine Konflikte zutrauen und deshalb Tabus schaffen", heißt es in dem von Wyss gemeinsam mit dem deutschen Kommunikationsforscher Klaus Meier, Professor für Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, verfassten Text.

Defizite und Fehler in der Berichterstattung

Die beiden haben in der Corona-Krise mehrere Defizite in der Berichterstattung ausgemacht. Dazu gehört der Umgang mit Zahlen. Ein Beispiel sind Angaben über Corona-Todesfälle aus unterschiedlichen Ländern, die jeweils anders erhoben wurden. Ein Land meldete nur Todesfälle aus Krankenhäusern. Ein anderes zählte gleich von Beginn an Todesfälle in Pflege- und Altersheimen mit. Außerdem sollten statt spektakulärer Einzelfälle besser allgemeine Strukturen erklärt werden. Statt nur absurde Hamsterkäufe von Klopapier in den Fokus zu stellen, sollte also auch über Lieferketten im Handel berichtet werden. So wäre leicht klar geworden, dass es sich nur um einen vorübergehenden Engpass wegen der starken Nachfrage handelte. Die Medien müssten nach Ansicht von Wyss und Meier auch transparenter machen, wie sie an ihre Informationen kommen und wo sie selbst noch im Dunkel tappen und wenig oder nichts wissen.

Andere Meinungen ernst nehmen und sich nicht lustig machen

Besonders wichtig sei, dass es eine vielfältige Auseinandersetzung mit allen Aspekten und Meinungen gibt. "Journalismus sollte meines Erachtens ein bisschen kritischer sein, früher vielleicht auch hinterfragen, dass es nicht zu Skepsis kommt", sagt Wyss im MDR MEDIEN360G-Interview mit Blick auf die aktuell bei vielen Demonstrationen geäußerte Kritik an den Medien. Der Journalismus müsse "auch für Stimmen, die vielleicht schon in den Fängen von Verschwörungstheoretikern sind, das Ohr offen haben". Stattdessen würde "schon stark diffamierend" über diese Menschen und "ihre ja teilweise durchaus berechtigten Ängste und Sorgen berichtet", stellt Wyss fest: "Man hat sich zum Teil über sie lustig gemacht - doch das ist ein ganz falscher Ansatz".